Funkenflug

Gestern war es wieder einmal so weit. 24 Stunden lang funkelte unser Planet gerade immer dort, wo die Nacht am schwärzesten war. Aus dem All mögen unsere phantastischen Feuerwerke in den Metropolen unserer Welt nur wie winzige Funkenflüge ausgesehen haben; uns Menschen aber erschienen sie wieder einmal atemberaubend und verschwenderisch zugleich. Sie waren Zeichen des Vergessens und des Aufbruchs, sollten die Zeitenwende markieren, die Wende vom alten auf das neue Jahr. Wie all die Jahre zuvor.

Doch es gibt keine Wende. Was uns Anlass gibt zum Feiern, ist nicht mehr, als das Überschreiten der Jahresmarke eines Zeitenzählers, der uns die Illusion gibt, die uns unbegreifliche Zeit ein bisschen zu verstehen. Mehr ist ja nicht passiert. Wo es aber keine Wende gibt, gibt es auch nichts zu feiern. Und doch feiern wir. Gestern noch bedrückten uns die grausamen kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Rücken zahlloser Menschen, die das Unglück hatten, nicht in eine friedliche Welt geboren worden zu sein. Gestern erfüllte uns Groll gegen alles Ungerechte. In der Welt, in unserer Arbeitswelt und zuhause. In der Silvesternacht aber erschien uns all dies als Elemente einer längst überwundenen Vergangenheit, das wir mit viel Tamtam und hellen Lichterbögen, mit Knallfröschen und schrillen Raketenkaskaden ins Jenseits beförderten.

Am Himmel zerstoben die alten Sorgen in Abertausenden farbigen Lichtern, die erloschen und sich zu bloßen Spuren in der Atmosphäre verflüchtigten. Das Zündholz mag dieses Gefühl der Befreiung ausgelöst haben. Die Feuerwerksrakete hob vom Boden ab, mit all dem Ballast, den wir uns nur hineinwünschen wollten. Sie stieg hoch in den Himmel auf, um dort mit einem lauten Knall und grellem Funkenregen zu verglühen. Die Rakete markierte einen Bruch mit der Vergangenheit.

Dass Funkenflug keine Probleme lösen kann, spielte hier keine Rolle. Mitunter erscheint die Illusion hilfreicher als nüchterne Erkenntnis. Sie betört uns, nimmt uns mit auf eine kleine Reise, eine Reise ins Vergessen, vielleicht auch in erhebende Freude und flüchtiges Glück. Feuerwerksraketen hinterlassen eine leuchtende Erinnerung für die Zukunft. Eine Zukunft, die nach dem Zeittakt gestern begann und doch nicht mehr ist, als die Fortschreibung der Vergangenheit.

Zahllose Flecken unserer Erde blieben auch in der Silvesternacht dunkel. Es gab keinen Anlass zum Feiern. Was sollte sich schon ändern? Und die Raketen? Zu teuer. Flecken ohne jede Illusion.

Im Januar 2017

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