Sorgsam gehütet

Da sammelt sich was an. Mit all den Jahren. Tückische Schätze. Verborgen in Nischen und an Orten, an denen sie niemand vermutet. Zusammengetragen, sorgsam gehütet und abgestellt. Damit sich niemand daran vergreife. Damals. Als sie ihren Ruheplatz fanden. Damals, als das Kramen noch nicht begonnen hatte, als wir noch keine Vorstellung davon hatten, welche Mühe es kosten würde, uns davon zu trennen. Als wir noch nicht wussten, dass sie mit dem Abstellen bereits verloren waren. Unsere Schätze sind Müll. Niemand weiß, was uns verbindet. Geben wir sie aus der Hand.

Sofort? Nein. Es hat keine Eile.

Im März 2021

Ich weiß es nicht

Ich weiß nicht, was passiert ist. Noch nicht so genau. Aber so ungefähr. Ich habe es gelesen. Es ist heute ja in allen Schlagzeilen. Und es ist ein Skandal. So ist es rübergekommen. Überzeugend.

Dazu darf man nicht schweigen. Hier muss man einfach Position beziehen. Und ich gehöre auch nicht zur stummen Mehrheit. Ich zeige Flagge, empöre mich öffentlich. Im Netz, in den Kommentarspalten, im Bundes- oder Landtag oder auch vor dem Gemeinderat. Mein politisches Statement lässt nicht lange auf sich warten. Ich initiiere Fragestunden und Anhörungen. Das bin ich der Öffentlichkeit schuldig. Dem Wähler. Dem Bürger. Dem Steuerzahler. Ich muss ihm schließlich Orientierung geben, meine Botschaft senden. Damit er sich eine eigene Meinung bilden kann. Der ich mit meiner Stimme Gehör verschaffe.

Auch als Journalist bekenne ich Farbe. Der Leser muss für das Unrecht dieser Welt sensibilisiert werden. Wer sonst, wenn nicht die Presse, ist auserkoren, Missstände aufzudecken, Hintergründe aufzuhellen und so zur demokratischen Willensbildung- und Kontrolle beizutragen. Die Meldung wird ihrer Bedeutung entsprechend platziert und kommentiert. Wenn der Leser meine Empörung teilt, hat er verstanden, worum es geht.

Meine Quellen sind verlässlich. Alles, was ich schreibe, kann ich sicher belegen. So viel zu den wesentlichen Fakten. Dass ich sie auf den Punkt bringe, schulde ich meinem journalistischen Handwerk. Hier arbeite ich sauber. Unangreifbar. Natürlich erreiche ich nicht alle. Manche mögen es nicht verstehen, andere wollen es nicht, wieder anderen ist ohnehin nicht zu helfen.

Was genau passiert ist? Ich weiß es nicht.

Im September 2020

Unseres Wissens

Wir wissen, wie es geht. Wie es sein muss und sein sollte. Und wir sagen es auch. Über alle Kanäle. Schließlich wissen wir es. Wir haben es gelernt.

Und wir sind aktiv. Mit Hypo- und Antithesen. Kennen Dialektik, Methodik und Rhetorik. Und setzen unser Wissen ein. Diskutieren mit. Denn wir können es. Sagen auch Unbequemes. Wenn nötig. Wir haben Übung. Liefern auf jede Meinung eine Replik. Bleiben den Menschen und der Welt nichts schuldig. Schließlich sind wir verantwortlich. Weil wir wissen, wie es geht, weil wir es gelernt und geübt haben. Wir geben alles was wir können. Und nehmen uns nicht mehr, als uns zusteht.

Auch wer nicht weiß, wie es geht und wie es sein muss und sein sollte, hat bei uns eine Chance. Er darf für uns arbeiten, uns eine Wohnung, Kleidung und Nahrung beschaffen, den Garten und die Wäsche pflegen und mit seiner Kreativität in vielfacher Weise verwöhnen. Er wird dafür auch gut belohnt. Unseres Wissens.

Im Juni 2020

Zweifelsfrei

Weiter gehts. Wir durchwaten Gräben und stolpern über Ackerfurchen. Getreideähren neigen sich unter unseren Schritten zu Boden. Wo wir uns den Weg gebahnt haben, durchzieht eine Schneise das Feld. Schade um das noch nicht gereifte Korn. Schade um die Mühen des Bauern, der die Saat ausgebracht und den Boden bereitet hat. Sein Getreide erträgt Leid das es nicht verdient hat. Es tut auch uns weh. Sorry. Aber es muss sein.

Denn wir machen Ernst. Es geht um unser Klima, dieses einzigartige, unserer Spezies vertraute Klima, ohne das es für uns keine kalkulierbare Zukunft gibt. Nicht für uns – und weniger noch für die Ärmsten der Armen, für die es kein Entrinnen gibt, wenn Ozeane ihr Land fressen, Stürme und Dürren den Rest an Leben vernichten. Und am Ende geht es auch um die von uns gequälten Ähren, die allein dem fortschreitenden Klimawandel nichts entgegenzusetzen hätten. Wir lassen uns nicht aufhalten, wo Handeln längst zur Pflicht geworden ist. Wer da noch über Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch oder ähnliche Straftaten zetert, hat wohl den Schuss nicht gehört. Der Krieg hat schon begonnen.

Ein schwarzer Block vermummter Staatsmacht erwartet uns. Die „Bullen“ erscheinen uns wie Büttel längst der Klimavergiftung überführter Kapitalverbrecher, welche die Staatsgewalt kaufen, um ihre schmutzigen Geschäfte weiter betreiben zu können. Braunkohle zu verbrennen, daraus elektrische Energie zu gewinnen und kräftig abzusahnen. Gierig die letzten Ressourcen zu verschlingen. Nur so zum Spaß.

Aus den Visieren der Garde des staatlichen Gewaltmonopols verfolgen unzählige Augenpaare unser Tun. Hundertschaften warten auf den Marschbefehl. Sie werden die Schlacht eröffnen, uns unter der Anonymität ihrer schwarzen Tarnung den Weg abschneiden, uns zurückdrängen, uns mit Kraft von unserem Platz zerren. Mit aller Macht. Wo die Polizei einschreitet, sind Prügel nicht weit. Wir kennen alle die Bilder: aufgenommen beim G20-Gipfel-Protest und auf anderen Schlachtfeldern.

Wer von uns beim G20 Protest dabei war, erwartet den Angriff nicht unvorbereitet: Das Mobile-Phone ist dabei. In Videos wird es staatliche Gewalt eindrucksvoll festhalten. Twitter und Co. helfen uns, die Schuldigen öffentlich zu entlarven. Wer neu unter uns ist, wird bitter erfahren, was es heißt, Opfer hoheitlicher Willkür zu werden. Das schweißt uns zusammen, stärkt uns auf dem allein richtigen Weg, den wir gehen: zu retten, was fast nicht mehr zu retten ist. Wo der Staat und die Gesellschaft komplett versagen, werden wir dem Klimawandel rigoros Einhalt gebieten. Hier und jetzt: wo ohne Rücksicht auf die CO2- Emissionen weiterhin Kohle verfeuert werden soll, um den unersättlichen Energiehunger unserer Gesellschaft zu befriedigen.

Wir werden ein Zeichen zur Nachahmung setzen. Wir werden die Spitze einer Bewegung sein, die einmal als Avantgarde einer gerechteren Welt in die Geschichtsbücher eingehen wird. Ihr werdet sehen. Ein Aufstand, der sich lohnt. Er gibt nur diesen Weg. Zweifelsfrei. Weiter gehts. Wir sind dabei. Wo so viel Unrecht geschieht.

Im Juli 2019

Besseres

Wir dürfen zurück in unseren Alltag. Schrittweise. Lange haben wir darauf gewartet. Häusliche Quarantäne und Kontaktverbote hielten uns gefangen.

Bange starrten wir auf Tabellen mit Infektions- Todes- und Überlebensraten. Keine Zahl war richtig, kaum eine wirklich falsch, ihre Bedeutung selten klar und das politische Maßnahmenpaket voller Risiken.

Die Schulen waren verwaist, Ladentüren verschlossen. Kulturhäuser blieben unbespielt und die Gasthäuser leer. Gespenstisch still war es auf den Straßen. Die Kraftstoffpreise sanken auf ein Vieljahres-Tief. Draußen erwachte der Frühling ohne uns. Der Himmel atmete auf.

Wir haben das alles erlebt. Und wir haben mitgemacht. Geduldig. Aus Einsicht. Wir wollten das Schlimmste verhüten: Dass ein Virus unser und das Leben anderer zerstörte. Ein Virus, gegen das es kein Mittel und keine Therapie gab, der man sich hätte bedenkenlos anvertrauen dürfen. Ein Virus, das den Forschern tagtäglich neue Überraschungen bereitete und sich zu allem Überfluss dort besonders fruchtbar vermehrte, wo Menschen sich näher kamen.

Wir selbst hatten den unbequemen Gast aus der Ferne mitgebracht und mit Flugzeugen in Windeseile über den Globus verteilt. Das Virus bediente sich unserer modernen Technik zur Überwindung langer Strecken. Und es bediente sich unserer Hotspots menschlicher Nähe, um allerorten aufzublühen.

Wir dürfen nun zurück in unseren Alltag. Wenn uns nichts Besseres einfällt.

Im Mai 2020

Nicht so schnell

Das Virus ist boshaft. Doch es kriegt uns nicht. Wenigstens nicht so schnell. Vielleicht später einmal. Sehr viel später, wenn wissenschaftlich gesichert ist, wie es zu besiegen ist. Aber nicht heute. Nicht zur Unzeit, zu der wir noch zu wenig wissen, uns noch die Waffen fehlen, es vernichtend zu schlagen.

Wir passen auf. Halten still. Schützen uns, geben ihm keine Gelegenheit sich einzunisten, von uns Besitz zu ergreifen um in uns massenweise neue Viren freizusetzen, die das unselige, mitunter gar vernichtende Treiben ihrer Vorfahren hemmungslos in immer neue Generationen forttragen.

Wir wollen nicht ihr Wirt sein, Wirt solch kleinster Wesen zwischen Leben und Tod, solch unsichtbarer Gäste. Sie kommen ungebeten und häufig genug unerkannt. Wir wissen nicht einmal, ob sie Quartier bezogen haben und ob sie wirklich fort sind, wenn wir sie längst nicht mehr in uns wähnen. Sie verschwinden spurlos. Doch nur scheinbar. Auf den ersten Blick. Bis wir sehen, was sie in uns angerichtet haben. Und womöglich noch anrichten können, weil sie noch da sind. Und uns schrecklich treue Verbündete bleiben.

Das Virus ist boshaft. Doch es kriegt uns nicht. Nicht so schnell.

Im Mai 2020

Virtual Reality

Hätte sie eine transparente Scheibe, könnte man die VR-Brille mit einer Tauchermaske vergleichen. Sie gäbe uns einen klaren Blick auf unsere Welt. Über dem Wasserspiegel und darunter. Diese Maske aber ist undurchschaubar. Sie spielt mit uns Blinde Kuh. Aus dem Dunkel lässt sie uns in fremde Wirklichkeiten tappen, die unsere Sinne betören und uns den Atem rauben, die uns ergreifen, fordern und beglücken. Bis jemand den Stecker zieht.

  1. Januar 2018

Geladene Gäste

Die Gäste haben sich zum Jahresempfang eingefunden. Sie wollen den Redner hören, dessen Worte Gewicht haben. Auch müssen sie dabei sein. Sie gehören dazu. Sie sind geladen. Ihre Arbeit muss warten.

Der Redner erledigt seinen Auftrag glänzend. Er enttäuscht seinen Auftraggeber nicht und erhält, wie vorgesehen, spontanen und kräftigen Applaus. Gute Reden tun gut in dieser Zeit, in der es so viel zu viel zu tun gibt. Da muss die Arbeit schon einmal warten.

  1. Januar 2018

Angefordert

Das Türschloss ist defekt. Der Riegel ruht haltlos in seinem Bett. Eine kleine Reparatur ist fällig. Sonst komme ich nicht in den Raum hinein. Oder, wenn es ganz schlecht läuft, nicht heraus. Oder ein Unbefugter könnte Zutritt erlangen.

Ich weiß, was zu tun ist und fordere eine Reparatur an. Mit der Tastatur. Es geht ganz leicht. Die kleine Applikation versteckt sich nicht. Ein Menue liefert mir Kategorien, die mein Hilfeersuchen aufnehmen. Ein paar Klicks, ein paar Worte und ab geht die Post. Verzögerungsfrei landet mein elektronischer Bittbrief dort, wo man sich meiner erbarmen wird. Die Antwort kommt digital und prompt. Jetzt ist es amtlich. Es gibt einen neuen Vorgang. Die Sache kommt in Fahrt. Meine Zuversicht wächst. Hilfe erscheint nicht mehr weit.

Der Hausmeister stellt umgehend seine Unzuständigkeit fest. An der Schließanlage sei Elektronik im Spiel. Hier dürfe er nicht eingreifen. Leider. Zuständig sei eine andere Abteilung. Es dauert nicht lange und Hilfe naht zum zweiten Mal. Der Abteilungsleiter kümmert sich persönlich um den Vorgang: Da muss der Schreiner dran. Dieser hat seinen Betrieb irgendwo draußen. Nach einem Telefonat erhalte ich eine Zwischennachricht: Es kann ein bisschen dauern. Der Betrieb ist für ein paar Tage geschlossen. Anfang des neuen Jahres wird jemand herauskommen und die Sache reparieren. Wenn es noch etwas Zeit hat. Es hat Zeit.

Das neue Jahr ist nun zwei Wochen alt. Noch heute wäre es meinem „Leatherman-Multitool“ ein Vergnügen, dem schwächelnden Schloss zu Leibe zu rücken, es der Tür zu entreißen, eine verbogene Feder wieder zu richten oder einen entwichenen Bolzen wieder in seinen Nut zu setzen oder einfach nur Platz zu machen für ein neues Schloss mit einem sattelfesten Riegel, der in der Lage ist, die Tür anständig gegen Unbefugte zu sichern. Ich aber habe eine Reparatur angefordert.

Das Türschloss ist defekt. Der Riegel ruht haltlos in seinem Bett.

Im Januar 2017

Verstaubte Akten

 

 

 

 

 

Die teuren Akten sind nun fort,
fast nur der Himmel weiß, wohin.
Verstaubt ist der verlass´ne Ort.
Doch sie bleiben uns im Sinn.

Bescheide sollten sie enthalten
zum alten rechtlichen Bestand.
Um neue Pläne zu gestalten,
hätten wir sie gern zur Hand.

Wen stört es schon, wenn alte Dokumente
bei der Planung nicht vorhanden?
Wenn doch die neuen Argumente
in den alten Akten noch nicht standen?

Die Geschichte ist jedoch gewissermaßen
ein Grund auf dem die Zukunft ruht;
sie einfach außen vor zu lassen,
wär´ für unsere Pläne nicht so gut.

Wenn etwa vieles, was bisher getrieben,
auf wack´liger Basis hätt´ gestanden
und ohne Recht bis heute wär´ geblieben,
was könnte künftig uns noch binden?

Würd´nicht altes Unrecht fortgeschrieben,
zu Lasten derer, die bisher gelitten?
Da wäre es nicht übertrieben,
wenn sie ihr Recht sich nun erstritten.

Doch Recht und Politik sind hier entzweit.
Politisch wird auch dies entschieden.
Es geht um die Vernunft und um die Zeit
und schließlich um den Nachbarfrieden.

So kommt es, wie es kommen sollte:
Politisch wird gedroht, gefeilscht und dann verglichen.
Jetzt kommt ein Plan, den niemand wirklich wollte.
Alles andere wird heut´ gestrichen.

Merke:

Wenn in den modernen Zeiten
zuerst politische Geplänkel zählen,
wer wollte da noch Paragraphen reiten
und in verstaubten Akten wühlen?

Im Januar 2017

Hier oben

Hier oben sind wir schwerelos. Den Boden haben wir längst verloren. Wolken vernebeln unseren klaren Blick. Was unten wohl geschehen mag? Wir wissen´s nicht und wollen es auch gar nicht wissen wollen. Wir wissen´s nur von unseren treuen Boten, unseren klugen Boten, die uns bittere Wahrheiten ersparen. Denn sie kennen unser Gemüt. Und schweigen, wo es wichtig ist.

Wir bleiben frei und denken uns die Welt zusammen, wie sie uns gefällt. Und handeln nach unseren Einsichten. Nicht ganz fehlerfrei, stets aber berechnend und klug. Davon sind wir überzeugt. Hier oben.

Und danach? Wir sind am Ende unseres Höhenflugs. Es geht nicht weiter rauf. Es geht nur runter. Ins Bodenlose. Bis zum harten Boden. Wären da nicht diese Wolken. Sie werden uns eines Tages ganz sanft davontragen. Wir sind nämlich schwerelos. Hier oben.

Im Januar 2017

Endlich

Endlich passiert etwas. So konnte es ja auch nicht weitergehen. Jetzt haben ein paar Mitmenschen die Inititative ergriffen. Ein Anfang ist gemacht. Die Initiatoren finden unseren Beifall und unsere Sympathie. Engagierte Leute sind das. Sich so einzusetzen, ist heute nicht mehr selbstverständlich. Noch nicht einmal bei einer so wichtigen Sache. Sie verdienen unsere volle Unterstützung. Die sie hiermit haben.

Schade nur, dass ich am Folgetermin nicht teilnehmen kann. Ausgerechnet dann habe ich meinen festen Termin in meinem „MacSuperFit“. Das ist deshalb besonders schade, weil dann die Aufgaben verteilt werden. So kann ich nicht dabei sein. Und mit anpacken. Mitmachen. Vielleicht ein andermal.

Jedenfalls stehe ich voll hinter der Sache. Da können die Initiatoren ganz auf mich zählen. Das ist ja auch schon mehr, als man heute erwarten kann. Wenn endlich etwas passiert.

Im Januar 2017

Funkenflug

Gestern war es wieder einmal so weit. 24 Stunden lang funkelte unser Planet gerade immer dort, wo die Nacht am schwärzesten war. Aus dem All mögen unsere phantastischen Feuerwerke in den Metropolen unserer Welt nur wie winzige Funkenflüge ausgesehen haben; uns Menschen aber erschienen sie wieder einmal atemberaubend und verschwenderisch zugleich. Sie waren Zeichen des Vergessens und des Aufbruchs, sollten die Zeitenwende markieren, die Wende vom alten auf das neue Jahr. Wie all die Jahre zuvor.

Doch es gibt keine Wende. Was uns Anlass gibt zum Feiern, ist nicht mehr, als das Überschreiten der Jahresmarke eines Zeitenzählers, der uns die Illusion gibt, die uns unbegreifliche Zeit ein bisschen zu verstehen. Mehr ist ja nicht passiert. Wo es aber keine Wende gibt, gibt es auch nichts zu feiern. Und doch feiern wir. Gestern noch bedrückten uns die grausamen kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Rücken zahlloser Menschen, die das Unglück hatten, nicht in eine friedliche Welt geboren worden zu sein. Gestern erfüllte uns Groll gegen alles Ungerechte. In der Welt, in unserer Arbeitswelt und zuhause. In der Silvesternacht aber erschien uns all dies als Elemente einer längst überwundenen Vergangenheit, das wir mit viel Tamtam und hellen Lichterbögen, mit Knallfröschen und schrillen Raketenkaskaden ins Jenseits beförderten.

Am Himmel zerstoben die alten Sorgen in Abertausenden farbigen Lichtern, die erloschen und sich zu bloßen Spuren in der Atmosphäre verflüchtigten. Das Zündholz mag dieses Gefühl der Befreiung ausgelöst haben. Die Feuerwerksrakete hob vom Boden ab, mit all dem Ballast, den wir uns nur hineinwünschen wollten. Sie stieg hoch in den Himmel auf, um dort mit einem lauten Knall und grellem Funkenregen zu verglühen. Die Rakete markierte einen Bruch mit der Vergangenheit.

Dass Funkenflug keine Probleme lösen kann, spielte hier keine Rolle. Mitunter erscheint die Illusion hilfreicher als nüchterne Erkenntnis. Sie betört uns, nimmt uns mit auf eine kleine Reise, eine Reise ins Vergessen, vielleicht auch in erhebende Freude und flüchtiges Glück. Feuerwerksraketen hinterlassen eine leuchtende Erinnerung für die Zukunft. Eine Zukunft, die nach dem Zeittakt gestern begann und doch nicht mehr ist, als die Fortschreibung der Vergangenheit.

Zahllose Flecken unserer Erde blieben auch in der Silvesternacht dunkel. Es gab keinen Anlass zum Feiern. Was sollte sich schon ändern? Und die Raketen? Zu teuer. Flecken ohne jede Illusion.

Im Januar 2017

Ein Bein zuviel

Ein standfester Tisch braucht drei Beine. Bei einem vierbeinigen ist Ärger zu erwarten. Und Unfrieden. Er hat einfach ein Bein zuviel. Denn nie sind alle Tischbeine gleich lang. Nie ist der Boden darunter völlig eben. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass alle vierbeinigen Frühstückstische wackeln. Trotzdem bleibt dies zu lange unbemerkt. Die Erkenntnis kommt erst später. Wenn ich einen Raum betrete, ist von wackelnden oder kippelnden Möbelstücken zunächst nichts zu spüren. Die Tische lassen sich widerstandslos in Augenschein nehmen, präsentieren sich in herrschaftlicher Ruhe und sind womöglich noch einladend gedeckt. Doch die Ruhe trügt. Das Getisch ist nämlich unberechenbar. Ihm fehlt das innere Gleichgewicht. Schon kleinste Bewegungen lassen es schwanken. Von der einen zur anderen Seite und vielleicht auch wieder zurück. Launisch ist es, haltlos und tückisch zugleich.

Vierbeinige Tische offenbaren ihren wackeligen Kern erst dann, wenn es zu spät ist. Dann, wenn eine Kanne heißen Kaffees oder Tees und allerlei sonstige Köstlichkeiten darauf versammelt sind. Wenn eine Vase bis zum Rand gefüllt mit Wasser auf ihnen steht. Wenn verführerische Früchte erprobter Gar- und Kochzeiten und zauberhafte Arrangements ihre Seele entfalten wollen. Sie zeigen ihre frevelhafte Tücke gerade dann, wenn ich Platz genommen habe, wenn ich in stillem Frieden genießen will. Dann stiften sie Unfrieden. Und wackeln. Sie haben einfach ein Bein zuviel.

Im Januar 2017

Unfallfrei gefrühstückt

Das Aroma frischen Röstkaffees und knuspriger Brötchen, spritziger Orangensaft und ein herzhaft festes Rührei auf körnigem Schwarzbrot haben mein Herz erobert. Nach einem erquickenden Schlaf sitze ich ganz in der Nähe des betörend duftenden Frühstücksbuffets. Und jetzt das: Der Tisch wackelt. Der Kaffee schwappt bis kurz unter den Rand. Das ist noch mal gut gegangen. Ich werde ein bisschen Obacht geben; dann passiert auch nichts. Adrenalin am frühen Morgen. Mein Hirn ist auf „Achtung“ programmiert: Jede unaufmerksame Bewegung lässt die Flüssigkeiten tanzen, die Teller klirren und Langstielvasen kippeln, bis sie sich womöglich geräuschvoll mit dem edlen Geschirr auseinandersetzen. Ich passe auf, dass nichts passiert. Und bringe mein Frühstück unfallfrei hinter mich. Ich verlasse den unseligen Ort und träume vom Genuss frischen Röstkaffees und knuspriger Brötchen.

Im Januar 2017

Meisterstück

 

 

 

 

 

Zimmermeister Giebelbau
wird es gleich im Magen flau,
geht es um den Meisterbrief.
Seine Sorge sitzt sehr tief.

Wo kämen wir dahin, wenn jeder
dem guten Handwerk ging an´s Leder,
dem Stand der ehrbaren Berufe.
Ein Scharlatan, wer danach riefe.

Es sind die Sicherheit und Qualität,
das ist´s, worum´s dem Handwerk geht.
Worum sonst, wirst du nun fragen
oder nicht zu fragen wagen.

Da ist was dran, ja in der Tat,
viel besser ist des Meisters Rat.
Er ist versiert in Fertigkeiten,
wird keinen Kummer dir bereiten.

Doch Wettbewerb ist mit im Spiel,
ein bisschen nur, vielleicht nicht viel.
Wenn dieser Meisterzwang entfällt,
will Konkurrenz an unser Geld.

Kurzum, wer wollte es bestreiten,
riecht Handwerk noch nach alten Zeiten.
Wir wünschen uns das Meisterstück
mit leicht verklärtem Blick zurück.

Im November 2005

Rotes Glas

Rotes Glas um gewöhnliche Teelichter, das ist der Renner der Saison. Türme zerbrechlicher Weihnachtsdekoration haben ihre Moderichtung gefunden. Sie bedrängen den Besucher, fordern ihn auf, auch das eigene Heim so zu verzieren. In jeder Nische. Überall. Das Fest der Liebe sieht rot. Gestanzte Rentiersilhouetten in vielfältig einfacher Darbietung erobern die Wohnstuben. Gekaufte Nostalgie, made in China; ein Stück Romantik ist zurück. Romantik statt Rummel, Romantik im Rummel und Rummel Romantik. Dekoration geschichtsloser MP3-Player, Computerspiele und Einkaufsgutscheine. Liebloses zum Fest der Liebe mit schrumpfender Halbwertzeit.

Im November 2005

Narreteien

Narren sind unter uns. Jetzt startete die Karnevalssession, zeitgleich mit der Einigung über den Grundlagenvertrag der Großen Koalition. Buntes Treiben kündigte sich an, in Berlin wie in Münster, wo ein versprengtes Häuflein Jecken, die vom Vortag, dem 11.11., noch übrig oder wieder auferstanden waren, den Prinzipalmarkt bevölkerte und Burlesken dem Volkstrauertag zutrieb. Viel Klamauk, aus dem sich nur hin und wieder vormals beteiligte, nun aber strauchelnde Figuren lösten und als pittoreske Farbtupfer in der Menge verschwanden. Figuren, die als kleine Strudel den Lebensstrom ein bisschen durchquirlten, um doch mit ihm wieder eins zu sein.

Und in Berlin? Berlin regiert wieder. Es hat eine Kanzlerin – in spe. Üble Umtriebe abgebrühter politischer Freunde  sind gescheitert. Die im Wahlkampf so heftig bekämpften Gegner haben sich als verlässlicher erwiesen. Ein 191 Seiten starker Koalitionsvertrag ist das Wertpapier, das die Teilhabe an der zukünftigen Regierung verkörpert. Der Börsenstart war verhalten, hagelte es doch heftige Kritik von interessierter und sachverständiger Seite. Doch der Kurs könnte steigen. In Berlin ist der Karneval vorüber. Die Narren sind nach Bayern oder sonst wohin verschwunden. Was bleibt, ist nüchterner Alltag. Und der folgt nicht politischem Kalkül, sondern ein paar Naturgesetzen. Das wissen die Handelnden. Und sie wissen auch, dass die Bürger klüger sind, als manch durchtriebener Geist zu erkennen imstande ist.

Im November 2005

Fast einwandfrei

Angenommen, ich wollte morgen früh ein Frühstücksei essen, hätte aber keines im Hause. Weder in der Küche, noch im Keller. Denken wir einmal auch die freundlichen Nachbarn weg, die selbstverständlich gerne aushelfen würden, wenn sie denn könnten. Sie können es diesmal nicht. Das ist unsere Vereinbarung.

Was tun? Morgen ist nicht heute. Aber wenn ich morgen frühstücke, werden die Geschäfte noch nicht geöffnet sein, Geschäfte, die in der Lage und zudem bereit sind, mir ein Frühstücksei zu verkaufen. Ich frühstücke immer um 6:30 Uhr. Die Geschäfte öffnen um 7:00 Uhr. Zeitdifferenz: Eine halbe Stunde plus Rückfahrt. Wenn alles reibungslos läuft. Wenn sich noch Eier im Regal befinden und die Kasse besetzt ist. Sonst dauert es länger. Wie man es dreht und wendet: Morgen einzukaufen, wäre zu spät für mein Frühstücksei. Gestern kann ich es nicht mehr kaufen, denn gestern ist seit heute vorbei. Also bleibt mir nur heute. Und von heute bleiben nur die restlichen Stunden des Tages. Solange noch ein Händler da ist, der in seinem Angebot auch Eier führt. Frische, versteht sich. Und ökologisch einwandfrei.

Es ist jetzt 17:30 Uhr. Ich bin soeben in meine Freizeitkleidung geschlüpft. Ohne Schlips und Kragen. Gerade habe ich mich hingesetzt, um ein bisschen abzuschalten, den Tag und seine Ereignisse in eine flache Uferzone einmünden zu lassen. Und nun der vorgezogene Wunsch nach einem Frühstücksei. Ich wüsste nicht, ob ich es überhaupt wollte, wenn ich mir vorstelle, den Prozess des Abschaltens für einen Wunsch zu opfern, der erst die Zukunft betrifft und mir heute nicht als so bedeutend erscheint, als dass ich alles für seine Erfüllung unternehmen würde. Das sind aber nur Erwägungen am Rande. Denn ich habe den Wunsch nach einem Frühstücksei für den nächsten Morgen. Das ist ja Thema dieser Niederschrift. Also habe ich diesen Wunsch in dieser zur Zeit noch komfortablen Lage, die durch die nun jetzt fälligen Maßnahmen allerdings gründliche Qualitätseinbußen erleidet: Aufraffen heißt es nun. Eine Einkaufsquelle erdenken, in der es heute das Frühstücksei für morgen gibt. Und dann: Nichts wie hin.

Es sei denn, ein Anruf genügte und das Ei würde ins Haus geliefert. Das wäre auch nicht schlecht und würde mich nur einen Augenblick aus dem verdienten Ruhesessel aufscheuchen. Dann, wenn der Bote klingelt. Gibt es so etwas? Dem Vernehmen nach: ja. Wo aber ist der Haken? Vermutlich sind es die Kosten. Und die Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die unterhalb einer Mindestabnahme keine Lieferung versprechen. Und wenn ja, wo finde ich dann überhaupt einen solchen Anbieter? Ich weiß es nicht sicher. Und jede Recherche würde meine wohlverdiente Ruhe durch unwillkommene Anstrengungen in Frage stellen. Also: Wir lassen das Internet heute mal außen vor.

Los geht es: Der nächste Laden ist nicht weit. Mit dem Auto ist es noch näher. In Zeiteinheiten. Die Schuhe an, den Anorak übergeworfen; die Wärme des Motors ist seit der Heimkunft noch nicht ganz erloschen. Routinemäßige Hinfahrt, Parken an bekannter Stelle, Einkauf wie gewohnt, Rückfahrt ohne Probleme. Das Fahrzeug steht. Ich kehre zurück ins Heim. In meiner Hand ein ausgeformter Karton. Mit Frühstückseiern Güteklasse A. Und frisch. Für morgen. Und die nächsten 5 Frühstücke dieser Woche.

Bio-Eier. Aus Freilandhaltung. Ökologisch fast einwandfrei.

Im November 2016

Smombie-Bompel

Augsburg feiert in diesen Tagen die Installation von Warnlichtern im Boden von Straßenbahn-Haltestellen. Sie hören auf den Namen „Bompel“ (Kunstwort aus „Boden“ und „Ampel“). Ihre Aufgabe: Smombies (Kunstwort aus „Smartphone“ und „Zombies“) vor einem tödlichen Fehltritt zu bewahren. Denn unausweichlich nähern sich immer wieder Schienenfahrzeuge, denen es bis heute nicht gelungen ist, ihr bequemes Schienenbett zu verlassen und um Hindernisse herum zu fahren. Auch nicht um Smombies. Mit Nachgeben ist nicht zu rechnen. Deshalb ist besondere Vorsicht geboten. Vorsicht, die aber nicht jedermann zu jeder Zeit aufbringen kann.

Wer kann schon seine ungeteilte Aufmerksamkeit einem so eingleisigen Gefährt wie einer Straßenbahn schenken? Es gibt schließlich auch noch andere Probleme. Jedenfalls für unsere liebenswerten Smombies, die uns mit ihrem hilflosen Herumstolpern im öffentlichen Straßenverkehr ohnehin schon viel Mitgefühl abringen. Wie sie da ohne Rücksicht auf Verluste tief in die bewegenden Momente des Weltgeschehens eintauchen. Wie sie sich unter Einsatz ihres eigenen Lebens den Schicksalen der angesagtesten Idole hingeben. Tief versunken in die Botschaften ihres Phones. Bereit, alles zu vergessen, was sich sonst noch regt. Wer wäre da nicht geneigt, ihnen beizuspringen, ihren selbstlosen Einsatz mit mindestens ebenso großem Engagement zu honorieren? Sie verdienen unseren vollen Schutz. Es geht um ihr Leben.

Die Bordsteine aufzureißen, ist da nicht mehr als eine schlappe Geste der Menschlichkeit. Lichter zu installieren, erscheint kaum mehr als ein kleiner Hoffnungsfunke für unsere bedrohte Smombiewelt. Außerdem: Gefahren lauern doch nicht nur an einzelnen Haltestellen. Nein, überall, wo wir Schienen haben.

Und wo wir gerade dabei sind: Vor uns liegt eine Mammutaufgabe. Wenn ich es so recht betrachte, brauchen wir eigentlich eine flächendeckende Bebompelung unserer Städte und der Vorstädte und der gefährlichen Bahnkreuzungen im ganzen Land. Doch was passiert? Fast nichts. Köln hat sich aus seinem Bompel-Projekt dem Vernehmen nach verabschiedet. Und Berlin ebenso. In anderen Städten herrscht verdächtiges Schweigen.

Ja, sind wir noch zu retten? Wir. Die Smombies. Die Verantwortlichen, die unsere Städte mit Bompeln pflastern. Und die Verantwortlichen, die dies nicht tun.

Im November 2016

Auszeit

Die Bahn ist frei. Zuhause wartet viel Gewühl. Eine winzige Auszeit nur. Ein paar Minuten für die Sinne, für Raum und Zeit und Leben. Die Ampel springt auf „Grün“, lädt ein zu dieser kleinen Flucht.

Auszeit in Alltäglichem: Grelle Preisschilder. Unübersehbar, provokant verletzend. Bunte Öde im Geräume der Discount-Auslagen. Zum Ergreifen nah die Dinge, die niemand braucht und doch alle kaufen sollen. Sie will die Ware nicht. Sie sucht nur sich.

Mit leeren Taschen und mit voller Börse verlässt sie diesen Ort.

Auf nach Hause. Auf ins Gewühl.

Im November 2016

mittendrin

 

 

 

 

draußen ist nicht drinnen
drinnen ist nicht draußen
weder drinnen noch draußen

draußen hat eine mitte
und mittendrin ein drinnen
in der mitte draußen

ich bin mittendrin
im drinnen
da draußen

die mitte bin ich

Im November 2016

Eigentumswohnung

 

 

 

 

Bald schon ist die Tinte trocken
und besiegelt unser Wohnungsglück.
Pfusch am Bau kann uns nicht schrecken.
Wir haben alles voll im Blick.

Der hohe Preis erscheint uns angemessen,
denn Wohnen ist nun mal so teuer.
Wir müssen diese Chance erfassen
und freu´n uns auf die Einzugsfeier.

In guter Lage wird das Haus entstehen,
die alten Bauten müssen weichen.
Das Umfeld haben wir uns angesehen,
und unsere Mittel werden reichen.

Als erstes zahlen wir dem Staat Tribut.
So ein Bauvertrag kennt viele Raten.
Jetzt wird es Zeit, dass sich am Bau was tut.
Wir können es kaum erwarten.

Noch bleibt es still an des Objektes Ort,
die Ruine steht noch immer da.
Wir wünschen sie als Bauschutt fort
und sehen schon den Abriss nah.

Mit der Zeit erfasst uns Ungeduld,
denn am Objekt herrscht laute Grabesruh.
Ist wirklich nur das Wetter schuld?
Wir sehen ziemlich hilflos zu.

Der Vertrag kennt keinen Fixtermin.
Wie Gummi, scheint uns, ist er auszulegen.
Das zieht sich wohl noch lange hin.
Wann wird sich endlich was bewegen?

Die grenzenlose Wartezeit
findet schließlich doch ihr Ende.
Der Grund ist von Ruinen nun befreit
und wartet auf die Fundamente.

Plötzlich wird gebaggert und gebohrt,
verfüllt, verfestigt und gegossen.
Die Gräben werden noch verrohrt
und sorgsam dann verschlossen.

Das Bauwerk wächst fortan in Windeseile.
Natürlich sind wir jeden Tag vor Ort.
Jetzt braucht es nur noch eine kleine Weile
bis zu unserer eigenen Wohnung dort.

Das Konto wird in Magersucht getrieben:
Dürr erleichtert finden wir es wieder.
Von ihm ist nicht mehr viel geblieben.
Im Tagesausdruck schlägt sich´s warnend nieder.

Bei den Extras sind wir sehr bescheiden:
Nur vom Besten soll es sein.
Jeder wird uns drum beneiden
und die Kosten bleiben klein.

Schließlich wird der rohe Bau geschliffen.
Die Flächen kriegen jetzt Formate,
und eh´ wir es begriffen,
fließt unser Geld bis auf die letzte Rate.

Stolz betrachten wir den großen Bau,
bis wir aus der Nähe sehen:
Keine Fliese ist hier gerade und kein Spalt genau.
Hier muss noch reichlich viel geschehen.

Leider ist der Sünder dieser Pfuscherei
nicht im Büro und nicht im Land.
Wir fordern ihn sofort herbei.
Er bringt uns noch um den Verstand

In den den nächsten Wochen
geht es schleppend nur voran.
Wir könnten auf Verträge pochen
und biedern bittend uns doch an.

Im Grundbuch steh´n, ist unser nächstes Ziel,
abgenommen muss das Werk dann sein.
Der Mängel aber gibt es viel zu viel.
Wir geh´n auf Kompromisse ein.

Der Schlüssel wechselt bald in unsere Hände,
Restarbeiten müssen halt noch warten.
Uns gehören nun die teuren Wände,
bezahlt mit allen Raten.

Wir sind zuhause angekommen
und genießen unser kleines Glück.
Mancher Traum ist uns dahingeschwommen,
doch haben wir nun alles voll im Blick.

Im November 2016

Grippe

 

 

 

 

Mein Hals ist steif, die Nase läuft
und meine Bronchien keuchen.
Gesunde Zellen feuern Schmerzsignale
und müssen doch den Invasoren weichen.

Die Organe sind jetzt Gästezimmer
für fremde Wesen, die sich hier vergnügen.
Erst wenn mein Körper völlig ausgeraubt,
lassen sie ihn wieder liegen.

Fade schmeckt das Morgenbrot,
unberührt bleibt meine Suppe stehen.
Wie giftiges Gebräu wirkt die Arznei;
so kann´s nicht lange weitergehen.

Sieben Tage währt die Invasion,
dann geh´n die Gäste aus dem Haus.
Doch während sie noch meinen Körper quälen,
suchen sie sich schon ihr neues Opfer aus.

Druckvoll wehrt mein Körper sich
mit Husten und mit Niesen.
So trägt der Wind die üblen Keime fort,
die dann beim nächsten Wirte munter weiter sprießen.

Sein Hals wird steif, die Nase läuft…

Im November 2016

Angebissener Apple

Ich will ganz sicher gehen. Vorsorglich buche ich die Fahrkarten schon einmal zuhause. Schwedische Kronen habe ich nämlich nicht und werde auch bis zu unserer Ankunft in Stockholm über keine verfügen. Was uns dort am Airport Arlanda erwartet, ist noch unklar. Voraussichtlich wird es Umtauschmöglichkeiten geben. Gegen einen schlechten Wechselkurs selbstverständlich. Oder ich kann mir ein paar Kronen an dem Automaten besorgen, wenn der Flughafen einen solchen hat, wenn dieser ohne stundenlanges Warten für mich erreichbar ist, er funktioniert und auch noch meine MasterCard akzeptiert. Das ist mir alles zu unsicher. Denn richtig angekommen werden wir erst sein, wenn wir unser Hotelzimmer betreten. Deshalb buche ich von zuhause aus.

Die Arlandaexpress-Seite führt mich in englischer Sprache sehr gut durch das Bestellprogramm. Selbst die Namen der Passagiere, den Hin- und Rückfahrtag will das System wissen. Das ist kein Hindernis für mich. Das sind keine problematischen Daten. Sie herzugeben, wird mir absehbar nicht zum Verhängnis werden. Doch Vorsicht ist schließlich geboten. Insbesondere in unserem großen Netz.

Das System akzeptiert die MasterCard. Und Karten schwedischer Geldinstitute, die ich selbstverständlich nicht habe. Meine Geschäftsverbindungen nach Schweden sind doch reichlich unterentwickelt. Also wird es meine gute alte MasterCard, über die ich den Zahlungsvorgang abwickeln werde. Online öffnet sich nun ein Fenster, das der englischen Sprache nicht mehr mächtig ist. In Schwedisch fordert das Bezahlprogramm die Eingabe meiner Kreditkartendaten ab. Unten sind Kalenderdaten einzugeben. Gemeint sein kann nur das Ausstellerdatum oder der letzte Tag der Gültigkeit meines Zahlungsmittels. Die Eingabe bereitet kein Problem. Und ab geht die Nachricht ins Rechenzentrum.

Den Vorgang wiederhole ich ein paar Mal, weil meine Eingaben dem System offenbar nicht gefallen. Dabei bin ich außerordentlich vorsichtig zu Werke gegangen, habe jeden Buchstaben und jede Zahl genauestens kontrolliert. Nur das Datum der Karte war eine Wette mit einer Gewinnchance von 50:50. Dafür braucht man nicht mehr als zwei Eingaben. Und trifft die richtige Version. Doch so weit kommt es nicht. Ein kleines Fenster erscheint vor dem Eingabefeld und informiert mich unmissverständlich, dass meine MasterCard nun für das 3D-Secure-Verfahren gesperrt sei. Nebenbei bemerkt: Es ist meine einzige Kreditkarte. Und: In den nächsten Tagen muss sie unbedingt funktionieren. Sonst droht mir im Urlaub die komplette Zahlungsunfähigkeit. Heute ist Sonntag. Heute arbeitet fast niemand. Fast.

Es gibt eine Telefon-Hotline. Und dort sitzt ein Mensch, mit dem ich reden kann. Er informiert mich über die Möglichkeit, sich für das 3D-Secure-Verfahren anzumelden. Es ist ganz einfach. Der Link befindet sich an angegebener Stelle auf der Homepage meiner Bank. Herzlichen Dank. Jetzt komme ich damit klar. Vorerst aber bitte noch das Konto entsperren. Bitte. Der freundliche Mensch erledigt auch das. Danke. Sie haben mir sehr geholfen. Dank an meine Bank, die mich am Nasenring durch ihre Internet-Arena schleift. Freie Fahrt für neue Abenteuer.

Der Link eröffnet mir die Möglichkeit, mich mit meinen persönlichen Daten anzumelden, um das neue Verfahren zu starten. Beschwingt tippe ich die Zahlen und Buchstaben in das Formular. Dann kommt die entscheidende Enter-Taste. Und siehe da: Es tut sich nichts. Mein eingetipptes Werk ist ausgewischt. Das Formular erscheint unschuldig leer, unausgefüllt, wartend auf neue Eingaben. Ich wiederhole den Vorgang. Und wiederhole ihn noch einmal. Und immer wieder. Dann gebe ich auf. Der Arlanda-Express muss warten.

Die Telefon-Hotline ist auch dieses Mal besetzt und prompt erreichbar. Dank an meine Bank. Ich schildere mein Problem. Mein Telefon-Gegenüber kommt ins Grübeln und stellt Fragen. Wenige nur, will wissen, mit welchem Browser ich arbeite, also mit welchem Boot ich in die Fluten des Internets steige. Mit Safari gebe es ein Problem. Das sei bekannt. Ich solle es doch vielleicht mit einem anderen Browser probieren. Und viel Glück dabei. Danke. Mein Glaube an den Apple-Standardbrowser ist erschüttert. Man sollte sich vielleicht doch nicht so einer kleinen Klitsche wie dem angebissenen Apple ausliefern. Doch ein anderes Programm habe ich nicht aufgespielt. Und ich habe auch nicht vor, dies jetzt zu tun.

Hilfe ist nicht weit: Mein Windows-Mobile-Phone browst mit einem eigenen System. Es könnte helfen. Die Bankseite ist rasch aufgerufen. Doch beim Eintritt in die 3D-Secure-Anmeldewelt wird sie ganz kleinlaut. Winzige Buchstaben-Bilder-Kombinationen und noch winzigere Eingabefelder sind nichts für müde Augen und dicke Eingabefinger. Eine Mobile-Version gibt es nicht. So taste ich mich wie ein Elefant auf einer Schreibmaschinentatstatur an die richtige Eingabe aller angefragten Daten heran. Selbst der neue Sicherheitscode für das 3D-Secure-Verfahren bleibt in der Wiederholung fehlerfrei. Es ist geschafft. Das System zeigt sich zufrieden und schaltet mich und mein Konto wieder frei. Nun aber mit an Sicherheit grenzender Sicherheit.

Der Arlanda-Zug wird wieder auf sein Gleis gesetzt. Bezahlt wird im 3D-Secure-Verfahren. Online kommt ein Bestätigungscode per Mail. Ich drucke ihn auf Papier. Er ist im Zug zu nennen, wenn der Schaffner kommt. Mobil hätte ich ihn auch haben können. Hätte ich ihn haben können, aber nicht wollen. Ich will ganz sicher gehen.

Im Oktober 2016

Piepegal

Pst. Nicht weitersagen: Wir sind ziemlich harmlos aussehende kleine Wesen. Ein bisschen rund vielleicht. Aber ansonsten – in aller Bescheidenheit – ganz hübsch. Und klug. Unsere Geistesblitze sind unübersehbar. Die meisten von uns kleben unter der Decke. Wir fallen niemandem mehr auf. Aber wir sind umso wachsamer. Uns macht niemand etwas vor. Wir sind immer da, ganz nahe am Geschehen. In den Schlafräumen der Menschen, in Treppenhäusern, Fluren, Küchen, Wohnstuben und wo man sonstwo noch meint, zuverlässige Helferlein haben zu müssen.

So einiges haben wir schon gesehen. Manchem hat´s dabei schon mal den Atem geraubt. Manch einer wurde misshandelt, seiner Funktion und sogar seiner Energie beraubt. Viele warten noch mit höchster Spannung auf ihre Abenteuer. Nachwuchssorgen haben wir keine. Das Gesetz befruchtet unsere Vermehrung. Wir gehören in jedes Haus, in jede Wohnung, in die wichtigsten Räume, in denen Menschen leben. So das Gesetz. Bereits heute zählen wir Zig-Millonen Stück weltweit. Und das ist erst der Anfang. Wir sind eine extrem schnell wachsende Gemeinschaft. Und wir halten fest zusammen.

Vor wenigen Tagen erst haben wir uns zu unserem globalen Netzwerk „Piepegal“ zusammengeschlossen. Heutzutage muss man seine Interessen ja bündeln und zusammenarbeiten. Dabei sind wir ganz unter uns. Natürlich hat ein Normal-Sterblicher keinen Zutritt zu unseren internen Foren und Chat-Räumen. Sie liegen ganz im Dunkel des Netzes. Mit einer Google-Suche ist da nichts zu machen. Erst recht nicht unter dem Begriff „Brandmelder“.

Uns geht es nicht allein um die blanke Interessenwahrnehmung. Wir wollen auch ein bisschen Spaß dabei haben. Und haben ihn. Denn uns quälen keine Skrupel, keine Gewissensbisse oder irgendeine Moral. Wir sind ja keine Menschen. Und so ergötzen wir uns köstlich an den vielen kleinen Geschichten, die jeder anlässlich unserer virtuellen Treffen zu erzählen weiß. Garantiert lustig und garantiert aus erster Quelle. Denn wir sind ja immer ganz nah, wenn mal wieder so ein Unglücksrabe sein Geschick an uns versucht. Meistens betrifft es die kleineren Leute. Rentner, Hausfrauen, die mit ihrem hohen Pflichtgefühl diese urkomische Vorschrift einhalten und uns in ihr Haus holen.

So richtig lustig wird es, wenn wir des Nachts einmal mit unserem schrillem Ton Fehl-Alarm geben. Wir biegen uns dann vor Lachen. Die Menschen verlieren bei Alarm regelrecht ihren Verstand. Wie die alten und jüngeren Herrschaften versuchen, uns zum Schweigen zu bringen! Aus tiefstem Schlaf torkeln sie dann auf uns zu. Ihre Arme sind zu kurz, als dass sie an uns heranreichen könnten. Manche von ihnen greifen verwirrt den erstbesten Stuhl und klettern unbeholfen hinauf, um sodann wie wild an uns herumzudrücken, bis wir endlich still werden. Das geht nicht immer gut. Gerade Ältere haben schon oft genug den Abflug gemacht. Zum Boden hin. Ab und an trifft nicht einmal der Krankenwagen rechtzeitig ein. Viele verunglücken bereits, wenn sie uns montieren wollen. Oder beim Batteriewechsel. Oder beim Versuch, unsere Funktionsfähigkeit zu überprüfen.

Lustig, was da so alles passiert. Wir haben ja keine Gewissensbisse. Aber bitte: Nicht weitersagen. Das bleibt ganz unter uns. Offiziell retten wir nämlich Menschenleben. Das wurde auf unbegreifliche Weise statistisch nachgewiesen. Das glauben die Menschen ganz fest. Sie brauchen sich deshalb auch keine weiteren Gedanken zu machen und sollten dies um Himmels willen auch nicht tun. Ist ihnen ja auch piepegal.

Und so betreiben wir weiter unseren Schabernack und vermehren uns kräftig. Wir ziemlich harmlos aussehenden kleinen Wesen. Pst. Nicht weitersagen.

Im Oktober 2016

Mantelbogen

Eben noch ausdrucken. Dann geht die Steuererklärung auf den Weg. Fristgerecht. Die Enter-Taste gibt das Startsignal. Gleich werden feinste Tintenstrahlen das Papier mit einem Muster benetzen, das sich für uns in Buchstaben und Zahlen verwandelt. Bereit, unsere Unterschrift aufzunehmen. Denn unterzeichnet muss er sein, der Mantelbogen. Es ist der fast letzte Akt zur Erfüllung einer lästigen Pflicht. Ich bin wieder einmal spät dran. Eine Mahnung liegt schon hinter mir. Mit Fristsetzung bis morgen. Bis morgen ist der Brief auch im Kasten. Garantiert. Ich schaffe es auch dieses Mal und warte nur noch auf den Ausdruck. Der eigentlich schon anlaufen müsste. Der noch immer auf sich warten lässt. Vielleicht ist ja eine Einstellung nicht ganz in Ordnung? Die Prüfung zeigt: Sie ist korrekt. Und der Drucker selbst? Hat er kein Papier, keinen Toner? Aha, ein gelbes Lichtlein blinkt und meldet eine Störung. Die gelbe Farbe ist verbraucht. Damit sind auch die anderen Farben aus dem Spiel.

Kein Problem, denke ich: Dann kriegt das Finanzamt eben einen Schwarz-Weiß-Ausdruck. Da steht das gleiche drin. So kleinlich ist das mit den ausgedruckten amtlichen Formularen schließlich nicht zu sehen. Denn es kommt auf den Inhalt an. Nun also in Schwarz-Weiß. Die Einstellung ist rasch geändert. Und auf geht´s. Der Drucker verharrt weiter in stillem Protest. Er weigert sich, auch nur einen Tintentropfen zu verstrahlen. Er stellt sich tot und meldet mit digitaler Penetranz das Fehlen gelber Farbe. Wo er doch nur Schwarz-Weiß drucken soll. Bunt soll das Formular ja gar nicht werden. Der Inhalt ist ja auch nicht lustig. Es ist schließlich meine Steuererklärung. Ich prüfe die Einstellungen, suche im Manual nach einer Erklärung. Sie bleibt mir verborgen. In den tiefen Schluchten der Internet-Chatrooms finde ich dann den entscheidenden Hinweis: Auch wer nur Schwarz-Weiß drucken will, muss Farbe bekennen. Beziehungsweise haben. Dort, wo die Farbe hingehört. In den Farbtanks, den Milliliter-Portiönchen-Tanks der Druckpatronenhersteller. Und zwar in jedem. Ausnahmslos. Da macht Gelb keine Ausnahme. Auch Gelb muss sich an diese Regel halten. Technische Gründe werden angegeben. Mich überzeugen sie nicht.

Nun gut. Der Spaß wird teuer. Wenn es nur ein Spaß wäre. Dabei geht es nur um eine rabenschwarze Steuererklärung, die mir sogar noch eine deftige Nachzahlung bescheren könnte. Für heute wird meine Steuerakte geschlossen. Es ist schon spät. Morgen geht es weiter. Ich fahre zum nächstgelegenen Anbieter von Büromaterialien. Er liegt lächerliche 10 Kilometer entfernt. Was sind schon 2 Liter Sprit meines Wagens gegen die sündhaft kostbaren Ingredienzien der in homöopathischen Dosen in die Druckertanks eingebrachten Farbpigmente für den Abschluss meiner staatlich angeforderten Steuererklärung für das vergangene Jahr? Der Verkäufer ist freundlich, womöglich sogar sachkundig. Mit einem entwaffnenden Schulterzucken reicht er mein Entsetzen über die Preisauszeichnung für die kostbaren Druckerbetriebsmittel weiter an unbestimmte und unbekannte Mächte, die sich jenseits des Verkaufsraums an einem geheimen Ort mit klammheimlicher Freude an den Panikattacken der Käufer ihrer Produkte zu ergötzen scheinen.

So nicht! Mein schläfriger Verstand zeigt Widerstandsgeist: Die Rote Linie ist überschritten. Der wegen seiner rechnerisch so besonders günstigen Verbrauchskosten ins Haus geholte Drucker entpuppt sich als Trojanisches Pferd, aus dem sich nun die kleinen Farbkrieger aufmachen, um mein Konto zu plündern. Hier wird Widerstand zur Pflicht. Mit einem herzlichen Dank an den zum Handlanger solcher Machenschaften degradierten Fachverkäufer verlasse ich entschlossen das Geschäft. Entschlossen, nach Alternativen zu suchen, wenn es sie denn gibt. Es gibt sie. Es gibt andere Drucker, die sprichwörtlich günstige Verbräuche versprechen. Doch halt: War das gerade ein Déjà-vu-Erlebnis? Troja ist gar nicht so weit. Nein. Das ist keine Lösung.

Dann gibt mein Rechner Alarm. „tintenalarm“. So heißt eine Internetseite, die mir Tintenpatronen für mein Trojanisches Pferd – übrigens ein Modell der Fa. Brother mit der Bezeichnung: DCP-J410DW – zu einem Bruchteil der Kosten des Original-Farbarsenals verspricht. Ich weiß nicht, ob ich es wagen soll. Die Bewertungen durch andere Käufer sind angeblich gut ausgefallen. Ob diese Informationen den Tatsachen entsprechen, weiß ich nicht. Sie als richtig zu unterstellen, ist Vertrauenssache. Mit meinem Vertrauen aber ist es nicht mehr weit her. Dieses eine Mal noch und weil es ja einem guten Zweck dient, nämlich meiner Steuererklärung, stelle ich meine Bedenken beiseite. Ich drücke den Button „jetzt kaufen“. Ein erlösender Schritt.

Das „tintenalarm“-Menü führt mich bis zu dem alles entscheidenden Aufruf: Jetzt bitte zahlen. Die Sache eilt. Ich wähle die Sofortüberweisung. Mein Konto ist gedeckt. Es ist auch für solche kleineren Zahlungen zuständig. Und ich habe eine prima Online-Verbindung: Per mobiler TAN kann ich Zahlungsvorgänge mit fast absoluter Sicherheit durch Nutzung zweier Datenübertragungswege auslösen. Ganz schön klasse, diese Möglichkeit. Durch einen Klick fordere ich die Übermittlung der exklusiven TAN an. Per Mobile-Phone. Wo ist es nur? Wie üblich, liegt es in meinem Arbeitszimmer unter dem unerledigten Papierkram. Und wie üblich, haucht der sonst vor Elektrizität strotzende Akku gerade jetzt seinen nur noch schwachen Atem aus. Kein Problem. Damit habe ich Erfahrung. Dann dauert die Sache eben ein paar Minuten. Das Phone kommt an die Steckdose. Mein offenes Online-Konto erweist sich als geduldig und sieht gnädig davon ab, mich vorzeitig aus der Leitung zu werfen. Und siehe da: Das Display erwacht zum Leben. Eine Nachricht erscheint und mit ihm der erlösende Code: Meine TAN. Ich lese sie, will sie mir merken. Denn mein mit der dringend erforderlichen Energiezufuhr verkabeltes Phone reicht nicht ganz bis zu dem Platz, von dem aus ich mein Konto einsehen und steuern kann. Es jetzt abzustöpseln, würde die TAN vernichten und das ganze Spiel auf „Null“ setzen.

So merke ich mir die TAN, transportiere sie mit meinem ausgezeichneten Gedächtnis über eine Strecke von nicht einmal zwei Metern. Ich bin sicher, die Zahlen- und Buchstabenkombination richtig eingegeben zu haben. Doch ich ernte Ablehnung. Mein Konto mag meine Eingabe nicht, hält sie für falsch. Ein zweiter und ein dritter Versuch folgen. Vergeblich. Überall fließt mein Geld ab, sogar unmerklich. Hier aber streikt es, will seine Ruhestätte nicht verlassen, scheint sich fest auf meinem Girokonto eingerichtet zu haben. Am Ende macht mein Konto schließlich Schluss mit mir. Ich habe es wohl mit meiner unbescheidenen Überheblichkeit überreizt. Aus. Ende. Vorbei. Game over. Hier geht nichts mehr. Das Konto ist gesperrt.

Wäre ich in solchen Angelegenheiten unerfahren, könnte mich die feindselige Aktion meines Kontos nun in Unruhe versetzen. Doch Vieles ist mir ja nicht mehr fremd. Es gibt immer eine Lösung. Und siehe da, sie ist schon gefunden: Selbstverständlich lässt sich das mir online so unzugängliche Konto auch entsperren. Das ist ein lobenswerter Kundendienst meines Konto führenden Instituts. Mit einem kurzen Klick erfahre ich auch, wie es geht. Und es ist ganz einfach. Wenn man neben der TAN-Freischalt-Möglichkeit über ein Phone auch noch eine andere Methode nutzt. Etwa ein chip-TAN-Verfahren. Ich muss gestehen: Damit habe ich mich bisher noch nicht beschäftigt. Das Verfahren per SMS und Phone funktioniert doch einwandfrei. Nur heute nicht.

Ich ergebe mich, entschließe mich, ein chip-TAN-Verfahren einzurichten. Mit dem Ziel, mein Konto zu entsperren, mit dem weitergehenden Ziel, dann die Tintenpatronen für meinen Drucker bezahlen zu können, mit der Erwartung, dass diese dann auch geliefert werden, mein Drucker sie nicht abstößt und mir am Ende den Mantelbogen meiner Steuererklärung ausdruckt, den ich nun dringend auf den Weg bringen muss. Ein chip-TAN-Verfahren muss ganz sicher sein. Und so erkläre ich mich bereit, mich auf die Allgemeinen Geschäftsbedingungen einzulassen. Dazu gehört der Erwerb eines Lesegerätes, das in der Lage ist, vom Bildschirm meines Computers und vom Display meines Mobilphones geheime Signale entgegenzunehmen und sie in den alles erlösenden Code zu verwandeln, der mit seiner Eingabe den offenen Zahlungsvorgang zum Erwerb von Tintenpatronen freigeben wird. Die Geräte, die mein Kreditinstitut empfiehlt, erweisen sich einer ausführlichen Internetrecherche nach Alternativen zufolge als durchaus konkurrenzfähig in Preis und Leistung. Die ich ohnehin nicht beurteilen kann. Ich bestelle. Und zahle von einem andern Konto aus. Übringens mit einer TAN, die noch auf Papier gedruckt ist. Die Bestätigung der Bestellung folgt, nur wenige Tage später auch das Lesegerät. Gut verpackt in einem großen Karton.

Die Aktivierung des Chip-TAN-Verfahrens erfolgt fast intuitiv, nachdem ich entdeckt habe, dass sich die Markierungen auf dem Bildschirm mit den Markierungen auf dem Gerät decken sollten und natürlich die EC-Karte meines Instituts nicht fehlen darf. Mit bemerkenswerter Geschwindigkeit erfolgt dann die Entsperrung meines Online-Kontos. Der Streik ist zuende. Mein Konto arbeitet wieder. Wir können zum Alltag übergehen. Ich bestelle beim „tintenalarm“ zwei Portionen Farbe für meinen Drucker. Eine Portion zum sofortigen Einsatz. Die zweite für den Zeitpunkt, dass sich wieder einmal eine der Farben anschicken sollte, das ganze Drucksystem zu torpedieren. Die Kosten sind hoch, doch vernachlässigbar angesichts der trojanischen Alternative des Druckerherstellers.

In Feierstimmung drucke ich mit schwarzer Farbe den Mantelbogen meiner Steurerklärung aus. Meine Frau und ich leisten die notwendigen Unterschriften. Wie in jedem Jahr lassen wir es uns nicht nehmen, das Schriftstück persönlich in den Briefkasten des für uns zuständigen Finanzamtes einzuwerfen. Wir genießen das Gefühl der Erleichterung. Wie jedes Jahr. Mal sehen, was das Finanzamt sagt. Sorry für die Verspätung: Wir mussten nur noch eben den Mantelbogen ausdrucken.

Im Oktober 2016

Getrübter Blick

Man darf das ja gar nicht laut sagen. Doch. Man darf. Solange es eine Meinung ist. Denn jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Jedenfalls in unserem Staat. Solange das Grundgesetz gilt. Denn dort steht es. In Artikel 5 Absatz 1. Also: Meinungen darf man ruhig haben, selbst eine eigene. Man darf sie auch frei äußern und verbreiten. Sogar laut. Bis zur nächtlichen Ruhestörung. Dann allerdings wird die Meinungsäußerung zumindest in ihrer konkreten Ausdrucksart ein bisschen verboten.

Von bloßen Meinungen geht keine Gefahr aus. Denn sie sind nicht mehr, als das Ergebnis einer geistig mehr oder weniger anspruchsvollen kreativen Leistung. Sie folgen auch nicht unbedingt einer strengen Logik. Meinungen kann man sich beliebig bilden. Ich kann sie für meine ganze Ewigkeit konservieren. Nichts und niemand hindert mich daran, sie bei Bedarf oder sogar ohne Anlass täglich zu ändern. Eine solche Meinung darf man sogar laut sagen. Allen Unkenrufen zum Trotz.

Gefährlicher ist indes das Wissen über Tatsachen. Es ist lange nicht so harmlos wie bloße Meinungen. Tatsachen sind einer nach menschlichen Maßstäben „objektiven“ Überprüfung zugänglich. Ganz anders als Meinungen. Kein Wunder, dass das Wissen um Tatsachen ungleich schwerer wiegt. Dieses Wissen sieht das Grundgesetz in erster Linie bei der Presse und in der Pressefreiheit gut aufgehoben. Sie könne frei berichten. Aber jedermann?

Tatsachen tun schon einmal weh. Und das Wissen um manche Tatsache ist auch nur so lange gesellschaftlich unkritisch, wie es nicht weiter verbreitet wird. Deshalb darf sich jedermann zwar ungehindert aus öffentlich zugänglichen Quellen informieren. Weiter gehen die Garantien des Grundgesetzes aber nicht. Wer sein Wissen über Tatsachen äußert und verbreitet, ist deshalb ein bisschen vogelfrei.

Wen wundert es da, dass die Menschen ihr Wissen über Tatsachen zunehmend in bloße Meinungsäußerungen verbrämen, sie damit unangreifbar und wertlos machen. Deshalb ist unser Blick auf Tatsachen ein bisschen getrübt. Deshalb reden wir so viel. Und wissen noch nicht einmal worüber. Deshalb finden wir keine Lösung. Wir kennen ja noch nicht einmal das Problem.

Man darf das ja gar nicht laut sagen. Doch. Man darf.

 Im Oktober 2016

Reise

 

Ich bin. Zuhause. Ein Mensch vor einer Reise. Morgen geht es los. Mein Reiseziel birgt keine Geheimnisse mehr. Ich habe mir alles angesehen, habe meinen Stadtrundgang mehrfach absolviert. Mit Apple, Google und all den anderen feinen Datensammlern. Stockholm einmal rauf und runter und dann hinein. Ein bisschen von oben noch, ein bisschen Kultur, Kunst und Atmosphäre.

Ich besuche den Ort aus der Luft, sehe das Straßen- und Wegenetz, ein Meer von Dächern, sehe nach vorne, zu den Seiten und nach hinten. Mit einem Fingerklick um 360 Grad gedreht. Kalorienarmes Schwenken. In die Geschichte tauche ich tiefer ein als mancher Stadtführer. Nicht nur über Wikipedia. Die gastronomischen Glanzlichter der Stadt offenbaren ihre Schätze. Eine Eisbar betrete ich ohne Frösteln und verlasse sie ohne Schwips und mit voller Geldbörse. Kein Euro und keine Krone fehlen. Nicht einmal Fotos muss ich schießen. Es gibt mehr als genug davon. Und fast alle sind besser, als die, die ich mit meinem bescheidenen Talent zustande bringen könnte. Copy-Paste – und alles ist gesichert. Zum Versenden, zum Ausdrucken und Binden eines kleinen Buches. Ich könnte so ewig weiterreisen. Bei den Preisen.

Ich reise trotzdem. Mit Haut und Haar. Ich nehme meinen Körper mit, den Gesellen, mit dem ich ja auch sonst alles teile. Ich will hin, will die Stadt sehen, die Menschen erleben, den Klang der Straßen und Plätze, der gastlichen Orte und der Natur. Wind und Wetter, Sonnenschein und Regen werden meine Stimmungen fördern. Unverständliche Worte werde ich hören und lesen. Sie werden mich an meine Grenzen bringen. Gerade, dort, wo es wichtig wäre, sich ihren Sinn sicher zu erschließen. Etwa an Fahrkartenautomaten, die selbst verständige Reisende hilflos einer Meute dubioser Fahrdienste ausliefern können. Schlecht schlafen werde ich. Denn jedes fremde Bett ist ungewohnt hart oder weich oder sonstwas. Es wird anders sein als zuhause, mir nicht vertraut. Nächtlicher Friede aber braucht Vertrautheit. Neuzeitliche Wegelagerer werden mir auflauern und an meinen kleinen Ersparnissen zehren. Mein Konto erhält einen Aderlass und fordert meine Aufmerksamkeit. Reisen ist teuer.

Ich reise trotzdem. Warum? Was drängt mich, alles sehen, spüren und erfahren zu wollen? Allen Widrigkeiten zum Trotz? Vielleicht das „Selfie“, ein Foto, das mich in der fremden Stadt zeigt? Als sicherer Beweis, dass ich tatsächlich da war? Um anderen meine Möglichkeiten zu offenbaren, ihnen ein Stückchen Achtung vor meiner Person abzuringen? Ist es das? Was bedeutet das schlechte Foto, das ich selbst aufnehmen werde, das einem Vergleich mit einem geschäftlichen Foto niemals standhalten kann?

Ich war draußen, an einem Ort, an dem es noch etwas zu entdecken gab. Das Foto erinnert mich an die Situation, in der es entstanden ist, an den Tag, an die Atmosphäre, an Eindrücke, die ich hatte, als ich auf den Auslöser drückte. Es erzählt eine ganze kleine Geschichte, eine wahre. Und nebenbei ein paar Kleinigkeiten, die meine Phantasie hinzufügt, wo das Vergessen bereits Lücken hinterlassen hat. Was ich auf Reisen erlebe, bleibt mit mir auf einzigartige Weise verbunden, bereichert mich. Für immer.

Die Reise. Sie bleibt. Ich war. Ich bin. Zuhause.

Im Oktober 2016

Ehrliches Bedauern

 

 

 

 

 

Ornamente kriechen seinen Hals hinauf.
Symbole zieren die Hand,
die er mir entgegenstreckt.

Künstliche Tunnel dehnen
die Läppchen seiner Ohren.
Ich schüttle mich davor.

Der silberne Nasenring
und das Metall an Brauen und Lippen
verletzen mein Empfinden.

Er hat sich auf seine Art ordentlich gekleidet
für den heutigen Termin.
Er sucht Arbeit.

Seine Bewerbung erreichte mich ohne Bild.
Wäre er sonst hier?
Ich weiß es nicht.

Sein Blick, er sucht Kontakt zu mir,
doch meine Augen wandern nur
zum Metall, den Tunneln und Tattoos.

Meine Fragen sind Routine,
jedem habe ich sie gestellt.
Alle sollen gleiche Chancen haben.

Er öffnet mir die Tür zu seiner Welt.
Sie ist voller Menschen und Moden,
die ich nicht kenne.

Seine Eignung für den Job ist zweifelhaft.
Referenzen fehlen ausnahmslos.
Die Entscheidung scheint schon klar.

Alle anderen hatten ihn schon abgewiesen.
Glatt und strebsam waren die Gewinner.
Er musste stets verlieren.

Sein eigenes Unglück rührt mich schon.
Doch auch ich werd es nicht ändern.
Kurz und knapp wird er beschieden.

Ich reiche ihm meine Hand
Unsere Blicke treffen sich.
Mit ehrlichem Bedauern.

Im Oktober 2016

Dämmerung

 

 

 

 

 

Leben liebt die Dämmerung,

die Dämmerung das Leben.

Kurze Tage.

Lange Nächte.

Im September 2016

 

Ahnungslos

Es war einmal eine kleine Ameise. Die schleppte tagtäglich riesige Lasten auf strengen Pfaden ins prächtige Schloss ihrer großen Familie. Das war ihr Reich, gelegen an einem schönen Waldrain. Aber das wusste die Ameise nicht, war sie doch ganz unten, zwischen allen Fichtennadeln, herrlichen Blattresten und anderen vorzüglichen Baumaterialien. Ihr ging es gut, sie hatte nichts zu leiden und keinen Grund zur Freude, der ihr hätte genommen werden können.

Eines Tages, es war ein Sonntagmorgen, näherte sich Unheil. Aber auch das wusste die kleine Ameise nicht, denn sie hatte mit Sonn- und Feiertagen nichts am Hut, sie war schließlich nicht katholisch – und einen Hut hatte sie auch nicht. Und sie hatte keine Ahnung von der Gedankenlosigkeit der Menschen, deren Existenz ihr ohnehin für immer verborgen bleiben wird. An diesem Tage näherten sich zwei Menschen. Ein Vater mit seinem verzogenen Söhnchen, das wegen seines überlangen Vorabends reichlich zerknirscht daherkam und mit einem ausgedörrten Ast allerlei dummes Zeug anstellte. Aber das wusste das Söhnchen selbst nicht und sein Vater ließ es gewähren. Es hieb auf die jungen Blätter der Sträucher, die den Weg säumten, und stakste auf dem Boden herum, bis es das einem Erdhügel ähnliche Schloss der großen Familie der Ameisen entdeckte und den unwiderstehlichen Drang verspürte, hier mal kräftig mitzumischen. Das alles wusste die kleine Ameise nicht und wird es nie erfahren.

Das verzogene Söhnchen kannte keine Scheu, kannte die Baukunst der Ameisen nicht und nicht deren unendliche Mühe. So fasste es den Ast mit aller Kraft, stach in die Ameisenburg und zerrührte dessen feines Geflecht zu einem gewöhnlichen Haufen abgestorbenen Laubes. Und ging weiter. Ahnungslos. Es wird ahnungslos bleiben. Sein Vater sagte nichts.

Die kleine Ameise erhielt neue Order: Wiederaufbau. Große Lasten schleppen als winzigen Beitrag zum Wohle ihrer großen Familie, die ihre Bauaktivitäten nach erster Aufgeregtheit mit vielfachem Einsatz fortsetzte, auf dem Rücken der kleinen Ameise und ihrer Geschwister. Doch es gab keinen Grund zur Aufregung oder gar zu Hass und Wut. Denn sie waren ahnungslos. Alle. Wie das verzogene Söhnchen.

Im November 2005

Wie die Tüftler

Ideen muss man haben. Jedenfalls künftig. Denn dann entscheidet allein der Kunde, wie die Ware aussehen wird. Die Zeit der Tüftler ist vorbei. Die Zeit der Erfinder, der Entwickler, die in verschwiegenen Räumen Neues ersinnen, auf das sich Märkte und die Menschen stürzen. Was morgen die Brutstätten der Tüftler verlässt, hat keine Chance mehr. Für die Kunden sind dies Produkte fremder Ideen, sind kein eigenes Gut. Sie sind nicht so einzigartig wie der Kunde selbst. Der Kunde ist heute anspruchsvoll und nicht mehr zu kategorisieren, so wenig wie es seine Wünsche sind, die unbekannten.

Der Kunde sagt, was er will. Die Technik steht bereit. Wenn in den Clouds künftig alle Daten von Menschen und Maschinen und das Wissen der Welt zusammefließen, dann steht dem Kunden ein schier unerschöpfliches Reservoir von Produktions- und Gestaltungsmitteln zur Verfügung. Die Daten werden der Bestellung gemäß intelligent verknüpft, eröffnen dem Kunden die Nutzung einer unendlichen Produkt- und Variantenvielfalt. Es geht ganz nach seinen Wünschen, ganz zur Freude des mündigen Kunden, der sich jetzt sogar eigene Wünsche erschaffen kann, nach eigenen Vorstellungen, nach einer eigenen Idee.

Das war´s dann wohl. Adé du segensreiche Zeit der kreativen Denker und Macher. Es ist vorbei. Elitäre Anbietermacht gibt´s nicht mehr. Eure Arbeit ist jetzt Gemeingut geworden, wurde demokratisiert. Jeder ist künftig dabei. Der Kunde hat das letzte Wort. Seine Wünsche werden minutiös erfüllt. Wünsche, die er mitunter selbst nicht kennt. Hätte er nur eine Idee. Wie damals die Tüftler.

Im September 2016

Ei Ei

 

 

 

 

 

Ein Ei für´s Frühgericht
mag diesen Eier-Wärmer nicht.

Das Ei, es leidet still,
weil die Hitz´ nicht weichen will.

Coolness bis zum Schluss war seine Wahl,
die Hitze aber ist ´ne Qual.

Schon ist eine Stund´ vorbei,
doch niemand nimmt das heiße Ei.

Der eine kam zu spät, um früh zu speisen,
der andere entschied, viel früher abzureisen.

Der dritte wählte glatt das Nachbar-Ei,
das ging am coolen Ei vorbei.

Dem vierten war es schlicht zu kühl,
für sein Frühstücksei-Gefühl.

Coolness zeigt das Ei dann doch am Schluss,
als es zum Abfall wandern muss.

Im September 2016

Display

 

 

 

 

 

Smart ist unser kluges Phone,
smarter als manch Nutzer schon,
der stumpf auf seines Phones Display sieht
und nicht bemerkt, was drumherum geschieht.

Zwei Kinder in dem Wagen liegen,
für Mama ist es kein Vergnügen,
gleich zwei auf einmal ruhig zu halten,
muss sie ihr Smartphone doch verwalten.

Sie schiebt die ganze Wagenbreite
auf der einen Gehwegseite,
von der andren grüßt die Nachbarin,
ein Gegengruß ist jetzt nicht drin.

Es ruft das Phone nach der Mama,
und siehe an, sie ist schon da,
tippt geschwind ´ne Zeile ein.
Das sei erlaubt, das muss jetzt sein.

Die Kinder träumen sich in unsere Welt,
als nun ihr Wagen krachend hält.
Die Laterne stand im Weg, ist voll getroffen;
harmlos noch, so darf man hoffen.

Mama erschrickt, ist jetzt ganz da,
den Kleinen recht zum Greifen nah,
die sich zum Protest vereinen.
Sie beginnen jämmerlich zu weinen.

Listig stimmt das Phone mit ein,
will ebenfalls beachtet sein,
steht es immer doch bereit,
zu jeder Nacht- und Tageszeit.

Mama plagt das schlecht´Gewissen,
eilig etwas tun zu müssen.
Die Kleinen sind es wert, dass sie sich kümmert,
auch wenn ihr Phone noch weiter wimmert.

Die Kinder lächeln zaghaft wieder,
Mama schlägt die Augen nieder
und stammelt zweimal leis´ verzeih,
das war nicht gut. Das ist vorbei.

Der Quälgeist, dieses smarte Phone,
vergreift sich wieder mal im Ton,
du dummes Phone, du bist verloren,
ich hab es mir geschworen.

Mama öffnet dann in ihrer Wut
das Fach, in dem der Akku ruht,
entfernt den Quell der Energie,
und das Smartphone schweigt wie nie.

Sie sieht die Kinder an, sieht in den Raum,
sie sieht sich um und glaubt es kaum,
was am Menschen so vorüberzieht,
wenn er auf ein Display sieht.

Im September 2016

Begrenzte Haltbarkeit

Der Betrieb ist geöffnet. Die Ampel zeigt „Grün“. Ich gehe hinein. In die Gaststätte, das Lebensmittelgeschäft, in den Bäcker- oder den Metzgerladen. Lebensmittel aus sauberer Quelle, verlässlich, unbedenklich und garantiert hygienisch einwandfrei. Ihr Verzehr bereitet mir Vergnügen und deshalb stutze ich, als sich eine flaue Schwere auf meinen Magen legt und mich Übelkeit erfasst. Der Rest wird hier nicht erzählt. Er betrifft die Rückabwicklung meiner Nahrungszufuhr. Ich habe die Lebensmittel nicht vertragen. Es war wohl Unverdauliches dabei.

Wie konnte es dazu kommen, wenn doch die Ampel auf „Grün“ stand, die plakative Hygieneampel, gleich rechts neben der Eingangstür? Ich bin Verbraucher. Und diese Ampel diente dazu, mir Transparenz zu verschaffen darüber, wie es um die Hygiene in dem Betrieb bestellt ist. Gleich dreimal zeigte sie „Grün“. Jede Kontrollnotiz hatte dieselbe Farbe. An einem so ausgezeichneten Ort fühlt sich selbst ein kritischer Gast wie ich gut aufgehoben. Das grüne Signal wirbt für mein Vertrauen in einen hygienisch einwandfreien Umgang mit den zum Verzehr bestimmten Lebensmitteln.

Wie konnte mir an diesem Ort dann ein solches Missgeschick passieren? Ich verstehe die Welt nicht mehr und rede mit Freunden darüber. Sie finden rasch eine Erklärung: So einfach sei das mit der Ampel nicht. Ich solle doch erst einmal das Kleingedruckte lesen. Es stehe ausnahmsweise als Großgedrucktes bereits in der Überschrift des

„Gesetzes zur Bewertung, Darstellung und Schaffung von Transparenz von Ergebnissen amtlicher Kontrollen in der Lebensmittelüberwachung“, (Kontrollergebnis-Transparenz- Gesetz – KTG).

Der Verfasser: Welch gefällige Formulierung.

Das hätte ich mir ja denken können, bei einem Gesetz, das sich ganz und gar zur Herstellung von Transparenz verpflichtet sieht. Es geht natürlich mit gutem Beispiel voran, schreibt Kleingedrucktes extra groß. Ich muss reumütig gestehen, das Gesetz vor dem Betreten des Geschäftslokals nicht gelesen, ja, noch nicht einmal an ein Gesetz überhaupt gedacht zu haben, als ich die grüne Ampel am Geschäftslokal sah. Ja, ich muss zugeben, hier säumig gewesen zu sein.

Ich hole jetzt das Versäumte nach und stelle fest: Die grüne Ampel informiert nur über die Ergebnisse der zuletzt durchgeführten Lebensmittel-Hygiene-Kontrollen. Über nicht mehr und nicht weniger. Wenn sie sich daran hält, liegt sie voll im Rahmen des Gesetzes und kann deshalb auch niemanden täuschen. Die Ampel war mit guten Gründen auf „Grün“ geschaltet. Der Betrieb hatte keinen Anlass zu Beanstandungen geliefert. Amtlich war alles in Ordnung. Die letzte Prüfung lag 9 Monate zurück. Damals war alles einwandfrei. Von Täuschung keine Spur. Maßgebend ist schließlich der objektive Aussagegehalt der Ampel und nicht das, was ich mit meinem verwirrten Hirn hineininterpretiere. Das ist ganz allein meine Sache. Hier die Schuld bei anderen zu suchen, verbietet sich. Ich nahm in meiner Gedankenlosigkeit wohl an, alles sei gegenwärtig in Ordnung und ignorierte völlig, dass es alte Kontrollergebnisse waren und dass sich in 9 Monaten vieles ändern kann. Zum Guten wie zum Bösen. Die Ampel zeigt, wie es einmal war. Was derzeit ist, sagt sie uns nicht.

Für meine Versäumnisse habe ich gebüßt und blicke wieder nach vorn. Die Ampel steht noch immer auf „Grün“. Willkommen. Treten Sie ein. Aber glauben Sie ja nicht, dass Sie hier bedenkenlos genießen können. Auch Ampelfarben haben nur eine begrenzte Haltbarkeit.

Beim nächsten Mal versuche ich es einmal bei „Rot“. Schlimmer kann es ja nicht kommen. Sonst hätte der Betrieb keine Ampel mehr, nicht einmal eine rote. Er wäre dann geschlossen.

Im September 2016

Rotmilan

 

 

 

 

 

Erhaben zog er seine Kreise,
die Thermik trug ihn hoch hinauf.
Er hatte weite Sicht auf seine Weise
und spielte mit des Schicksals Lauf.

Großmütig ließ er Maus für Mäuschen
im Grase tanzend sich vergnügen.
Er machte derweil Paus für Päuschen
und ließ die fette Beute liegen

So schwebte er mit Seligkeit
im Aufwind seiner Stunden
eine ziemlich lange Ewigkeit,
bis die Sonne war verschwunden.

Die große Höh´, sie schwand im Nu,
sein müder Flügelschlag konnt ihn nicht retten,
er raste auf den Boden zu,
direkt in seines Grabes Stätten.

Wenn die Gunst der Stunde lenkt,
wird´s Zeit, dass man an morgen denkt.

Im September 2016

Glück zum Schnäppchenpreis

Ein alter, grauer Mann kauert im Straßenschmutz der Einkaufsstraße. Unauffällig, doch unübersehbar für all die tausend Menschen auf dem Wege zur großen Galerie und von dort zu den angesagten Orten der Stadt. Jeden Tag ist er nur ein paar Schritte entfernt, unverrückbar, nicht fordernd und doch berührend. Vor sich hält er eine kleine Blechdose. Für milde Gaben unserer Gesellschaft.

Er ist immer da, war es gestern und wird es wohl auch morgen sein. Er ist uns fremd und doch vertraut. Wir wissen nichts über ihn. Was hat er erlebt? Wo bleibt er heute Nacht? Ist da jemand, der auf ihn wartet, sein Leben mit ihm teilt? Wir wissen nichts. Und wir fragen auch nicht, haben ihn noch nie gefragt. Vielleicht spricht er gar nicht unsere Sprache? Wie weit müssten wir uns zu ihm hinabbeugen, um ihn zu verstehen? Mit ihm zu sprechen? Auf Augenhöhe, nicht von oben herab.

Wir wollen gar nicht wissen, wie´s um ihn steht. Aber wir zeigen Verantwortung: An ein paar Cent soll es nicht fehlen. Uns erfasst das mit großen Wohltaten untrennbar verbundene Glücksgefühl. Zum Schnäppchenpreis. Er ist ihn wirklich wert. Jeden Cent. Unser alter, grauer Mann im Straßenschmutz der Einkaufsstraße.

Im September 2016

Schweigenschreiber

Kennen Sie einen Schweigenschreiber? Meine Google-Suche erbrachte kein einziges Ergebnis. Es ist merkwürdig, warum es ihn nicht gibt, stellt doch das Schweigen häufig genug die glücklichere Handlungsalternative gegenüber dem Reden dar. Wir alle kennen die überlieferten Weisheiten: Hättest du geschwiegen, wärst du ein Philosoph geblieben. Und: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Manch einem fällt es offensichtlich leichter zu reden, als zu schweigen. Trotzdem gibt es eine schier unübersehbare Anzahl von Redenschreibern, aber keinen einzigen Schweigenschreiber oder keine einzige Schweigenschreiberin, wenn Google sich nicht irrt.

77.600 Ergebnisse fördert allein der Suchbegriff „Redenschreiber“ zutage, die Schreiberinnen nicht einmal mitgezählt. Selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, dass nicht jedes Suchergebnis auf geschäftliche Anbieter von Redemanuskripten schließen lässt, ist das Ungleichgewicht überaus bemerkenswert. Woran liegt´s? Sind die des Schreibens oder Schweigens nicht mächtigen Menschen so bescheiden geworden, dass sie heute bereit sind, für viel Geld eher die zweite Wahl zu bevorzugen, statt „erster Klasse“ zu wählen und mit gekonntem Schweigen zu punkten? Das wäre schade. Und es wäre teuer.

Haben Sie einmal darüber nachgedacht, welch volkswirtschaftliches Vermögen unsere Gesellschaft durch schlechte Reden verspielt? Wenn Hunderte von Menschen auf ihren Stühlen ausharren, um sich voller Andacht Sprachhülsen aus dem Konservenarsenal beruflicher Redenschreiber auszuliefern? Um am Ende artig und mitunter gar begeistert ob solch kluger Worte frenetisch Beifall zu zollen? Ganz schön blöd, werden Sie jetzt denken. Wer macht denn sowas?

Seien Sie versichert: In den Sälen, in denen sich Redner für gekaufte Rhetorik feiern lassen, sitzen nicht nur die Dummen unserer Nation. Nein. Viele gehören zur sogenannten Elite. Der geistigen und auch der gesellschaftlichen. Sie wird bevorzugt eingeladen. Weil sie aber nicht so viele Köpfe zählt, wird der Saal mit weiteren Claqueuren gefüllt; zunächst sorgfältig ausgewählt und, wenn das für bebenden Applaus noch immer nicht ausreichen sollte, mit großer Geste auch für die vielen Namenlosen geöffnet, die ihre Zeit für das Spektakel entbehren können. Wer derweil woanders gebraucht wird, ist nicht dabei. Und das ist gut so.

Nun könnte man meinen, der volkswirtschaftliche Schaden könne bei dieser Konstellation ja gar nicht groß sein. Wenn diejenigen, die gebraucht werden, sich solche Reden nicht anhören, sondern ihre Arbeit verrichten, sollte doch alles in Butter sein, egal wie viele andere Köpfe die Reihen füllen. Diese Vermutung greift nur zum Teil, nämlich für den Teil, der weder gebraucht wird, noch eine Vergütung für die eingesetzte Zeit zu erwarten hat. Das aber sind die wenigsten. Viele stehen in hoch dotierten Ämtern und Würden. Sie sind gleichzeitig aber auch die geborenen Opfer schlechter Reden, deren Präsenz für den Ruf und das Gelingen solcher Veranstaltungen nicht selten unabdingbar ist. Sie werden dafür bezahlt, sich das anzuhören, was dort aus dem Lautsprecher quillt.

Nun ja, das gehört eben dazu, werden Sie einwenden. Das stimmt und macht die Sache aber nicht besser: Die Redezeit verkürzt das knappe Zeitkontingent des Würdenträgers mindestens im Maßstab 1:1, wenn nicht noch eine Zeit raubende An- und Abreise hinzu kommt. Dem Würdenträger aber zollt unsere Gesellschaft gleichwohl ein anständiges Honorar, für das er in der Zeit der schlechten Reden keine messbare Gegenleistung erbringen kann. Der Schaden einer schlechten Rede vervielfacht sich so mit der Zahl der Teilnehmer und deren Stundenhonoraren und nimmt beträchtliche Ausmaße an. Sie merken: Das Teure einer Redeveranstaltung sind nicht die hohen Honorare der Redner, sondern der massenhafte Verlust an Arbeitszeit der klugen und weniger klugen Teilnehmer. Ganz zu schweigen von der wertvollen Lebenszeit, derer die geduldigen Zuhörer beraubt werden.

Zugestanden: Bisweilen gibt es auch neue, interessante und witzige – zumindest bereichernde – Vorträge. Aber sie sind leider die Blaue Mauritius unter dem allgegenwärtigen Aufguss dienstbeflissener Redenschreiber.

Was ist angesichts dieser desolaten Lage zu tun? Wir sollten – der überlieferten Weisheit folgend – dem Schweigen mehr Aufmerksamkeit schenken. Schweigen statt reden könnte die Lösung heißen. Schweigen kostet nicht eine Minute. Schweigen braucht kein Mikrophon, lässt keinen Lautsprecher erzittern und klingt angenehm. Schweigen verführt keine Zuhörer, arbeitet ohne Tricks und legt es nicht darauf an, den Geist zu überrumpeln und Applaus einzufordern. Schweigen kostet keinen Cent und ist doch ein Vielfaches einer Rede wert.

Sie sehen sich noch nicht ganz in der Lage, einfach zu schweigen? Auch dafür gibt es eine Lösung: Vertrauen Sie sich doch einfach dem ersten professionellen Schweigenschreiber an. Er wird es für Sie richten.

Ich stehe Ihnen gern zu Diensten.

Im Januar 2016

Von Sinnen

OLYMPUS DIGITAL CAMERAHell erscheint uns diese Welt. Ein warmer Sommerhauch umfächelt uns. Wir liegen im Gras. Und träumen. Wie von Sinnen. Träume ohne Ziel. Verloren in der Zeit. Einer Zeit ohne Uhr. In einem Raum ohne Grenzen. Eine kleine Ewigkeit. Mitten im Leben.

Es regnet unaufhörlich. Heute. Mitten im Winter. An diesem kalten, seelenlosen Januartag. Mitten im Leben. Der Körper friert. Doch der Geist ist wie von Sinnen.

Im Januar 2016

Müssen

wir müssen
immer
mehr

wir schaffen´s
fast immer
und mehr
und immer mehr
weil wir´s müssen

müssen wir
immer
mehr

wir schaffen´s
nicht mehr
nicht immer
nicht immer mehr
weil wir´s nicht müssen

weder mehr
noch immer
müssen wir

Januar 2016

Mensch, Version 1.0

OLYMPUS DIGITAL CAMERACyber-physische Systeme sind der Kern des „Internets der Dinge“ und läuten derzeit die 4. industrielle Revolution aus. Wenigstens aus heutiger Sicht. Denn was auf uns zukommt, wissen wir noch nicht. Wir können es nur erahnen. Als Anfang der 90er Jahre das Internet durch jedermann nutzbar wurde, konnte wohl kaum jemand auch nur annähernd dessen Auswirkungen abschätzen, die es bereits bis zum heutigen Tage hat. Noch aber ist die Entwicklung nicht abgeschlossen. Jetzt wird mit seiner Hilfe das Zeitalter der „Industrie 4.0“ eingeleitet. Was steckt dahinter?

Bisher werden industrielle Fertigungsprozesse sowie die Logistik im Wege des Enterprise-Resource-Planning optimiert. Die Bedarfe werden vorausberechnet und zur rechten Zeit bedient. Hier kommt es nicht nur auf ein sicheres Urteilsvermögen der beteiligten Menschen an, sondern auch auf gut funktionierende Informationstechnik, ohne die die komplexen Prozesse nicht mit der bekannt hohen Präsision und Schnelligkeit gesteuert werden könnten.

Künftig aber steuert das Produkt seine eigene Entstehung selbst. Mit dem Rohling wird ein Chip verbunden, der sowohl die Information enthält, was aus ihm einmal werden soll, als auch die Möglichkeit, hierüber mit anderen Maschinen per Internet zu sprechen. Das Produkt besitzt sozusagen seinen eigenen Bauplan, seine DNA. So ausgerüstet, wendet es sich per Internet an die Maschinen, die es zeitgerecht zu dem Endprodukt machen können, wie es im Bauplan beschrieben ist. Das funktioniert nur, wenn die anderen Maschinen auch mit ihm sprechen können.

Das Gespräch zwischen den Maschinen findet sinnvollerweise auf der ständigen Messe im Cyberspace statt. Dort, wo sich die besten Anbieter treffen. Wo alle nur eine Sprache sprechen. Und wo alle Leistungs- und Verfügbarkeitsdaten zusammenlaufen. In einer Cloud des Internets. Wo Dienstleister dafür sorgen, dass es den miteinander diskutierenden Maschinen an nichts fehlt. Wo die Leitungskapazitäten vorhanden sind und die Speicher. Wo die Sicherheit des Systems garantiert werden kann und wo nicht jeder Zutritt hat. Oder gerade doch?

Da kann einem schon ganz schön googelig werden. Denn die großen Datensammler werden auch dabei sein. Nicht nur mit ihrer unerschöpflichen Datenfülle, sondern auch mit den Algorithmen, die daraus nützliche Information generieren. Nützlich auch für das noch nicht fertige Produkt, das großen Wert darauf legen wird, in optimaler Weise behandelt und gestaltet zu werden. Ist die Auswahl groß, darf unser Produkt auch schon einmal wählerisch sein. Und das sollte es auch. Denn es findet nur einen Partner, wenn es für diesen perfekt ist. Häufig wird es sogar noch mit weiteren Partnern verbunden. Das gibt es etwa bei Zulieferteilen und Komponenten. Jeder Partner hat hierbei seine eigenen Vorstellungen, seine Extrawünsche: wo die Bohrungen liegen müssen, wie fein die Struktur der Oberfläche sein muss, zur Wärmeleitfähigkeit und zum Ausdehnungskoeffizienten. Die Reihe der Ansprüche ist oben offen. Deshalb muss das Produkt schon ganz genau hinsehen, wem es sich anvertraut.

Wenn sich die Maschinen dann über alle notwendigen Schritte und deren Reihenfolge einig sind, kann es losgehen. Pünktlich findet sich das werdende Endprodukt dort ein, wo es bearbeitet werden will. Wenn es den Dienstleister nicht zu sich einbestellt hat. Und danach geht es weiter. In einer Abfolge, deren Logik sich für den Betrachter womöglich zunächst nicht erschließt, die aber bei genauem Hinsehen doch wieder folgerichtig erscheint. Denn hier, wie auch in den von Menschen gesteuerten Systemen, treten einzelne Fehler auf. Im Material, durch äußere Einflüsse, durch falsche Daten oder durch Mängel des Programms. Wenn etwas nicht stimmt, weiß es das noch unfertige Produkt als erstes. Schließlich wird es von der Bearbeitungsmaschine, die nicht ganz intakt ist, umgehend informiert. Das Produkt wird dann neu verhandeln und sich eine andere Bearbeitung aussuchen und die Termine neu abstimmen. In Sekundenbruchteilen. Sollte es einmal durch üble Behandlung selbst zu Schaden gekommen sein, spürt es das recht bald. Denn es hat eine narzisstische Art: Es  betrachtet sich regelmäßig im Spiegel der Sensoren und duldet keinen Makel. Denn ein Makel könnte sein Ende bedeuten. Ein noch ungechiptes Ersatzprodukt im Rohzustand steht schon abrufbereit in den Startlöchern.

Das sich selbst optimierende Gesamtsystem fertigt und transportiert nur die Mengen, die tatsächlich verlangt werden. Es nutzt nur so viele Ressourcen, wie notwendig. Es ist flexibel genug, um Störungen auszugleichen, wo immer sie auftreten. Es arbeitet so selbständig, dass es den Menschen nur dann ruft, wenn es unbedingt erforderlich ist. Und je weniger der Mensch in das System eingreift, umso seltener wird er gefragt sein.

Also lässt der Mensch besser die Finger vom System. Dann läuft es wie von selbst. Jedenfalls fast. Denn die „Industrie 4.0“, das „Internet der Dinge“, braucht noch einen Besteller. Einen, der die Produkte oder die mit den produzierten Maschinen prodzuierten Güter haben will: den Menschen, den unverbesserlichen, Version 1.0.

Im April 2015

Für die Kinder

Die Schere zwischen Arm und Reich darf sich nicht weiter öffnen. Wir sorgen uns um unsere Kinder, um deren Chancen, um deren Wohlergehen. Wir kämpfen um mehr Gerechtigkeit. Für die Kinder.

Wir leben in der Erben-Generation. In den Aufbaujahren der Republik sind hohe Vermögenswerte entstanden, die jetzt neue Eigentümer finden. Die Vorstadthäuschen der Eltern, Schmuck, Angespartes und ganze Unternehmen. Kleine wie große. Wir leben aber auch in der Generation der Nicht-Erben, die in dem Generationenspiel leer ausgehen. Sie haben keine reichen Väter und keine Gönner, die ihnen zu Lebzeiten oder für den Todesfall nennenswerte Güter überlassen könnten.

So ist es kein Wunder, dass die Gerechtigkeitsdebatte neue Nahrung erhält: Kann es gerecht sein, dass der Nachbar, der im selben Jahr und am selben Ort wie ich geboren wurde, eine ganze Fabrik erbt, während meine ehrbaren Eltern mir nur wenige bescheidene Güter überlassen werden? Kann es richtig sein, dass derjenige, der schon zu Schulzeiten alle finanziellen Möglichkeiten hatte, nach seiner Erbschaft die Hände in den Schoß legen und aus dem Verkauf des Nachlasses ein Leben jenseits materieller Sorgen führen könnte? Der Mieteinnahmen erzielt, wo ich Miete zahle? Kann das richtig sein? Wer wäre da nicht geneigt, den Todesfall als geeigneten Anlass zu nehmen, ein bisschen mehr Gleichheit der Chancen für die Nachkommen der unterschiedlich erfolgreichen Vorfahren zu schaffen, der Vermögensspreizung unter den Kindern Einhalt zu gebieten?

Man könnte zum Beispiel das Erbrecht grundlegend ändern. Heute erben neben dem Ehepartner die Kinder an erster Stelle, es folgen in gerader Linie Verwandte und deren Abkömmlinge. Erst wenn niemand mehr da ist, erbt der Staat. Doch das muss ja nicht so bleiben. Das Erbrecht ist kein Naturgesetz. Es ist von Menschen gemacht. Vor sehr langer Zeit. Weit vor Inkrafttreten des Grundgesetzes. Wagen wir doch einmal das Experiment und ändern das Erbgefüge des Bürgerlichen Gesetzbuches, BGB. Als Erben bleiben noch die Lebenspartner. Verwandtschaft zählt nicht mehr. Kinder scheiden als Erben aus, ebenso andere in gerader Linie verwandte Mitglieder der Familie. Also: Schluss mit der Generationenfolge, die in wenigen Schritten zu erheblicher Ungleichheit der Kinder und Kindeskinder führen kann. Unsere Kinder sollen es einmal besser haben. So oder so.

Es wäre eine ziemlich einsame Rechtslage, weltweit. Von Japan über Indien bis zu den angelsächsischen Ländern gibt es große Übereinstimmung darüber, dass Vermögen der Eltern den Nachkommen überlassen werden. Das Erbrecht scheint in allen Gesellschaften sehr tief verankert zu sein, wie ein Naturrecht, das der Mensch nicht ohne weiteres brechen kann, ohne der Gesellschaft offene Wunden zuzufügen, ihre Architektur zu gefährden. Ganz offensichtlich wäre unsere Gesellschaft und wären unsere Volksvertreter auch nicht bereit, einen solchen Schritt zu wagen oder auch nur ins Spiel zu bringen.

Deshalb suchen wir nach anderen Wegen, der wachsenden Ungleichheit Herr zu werden. Dabei lassen wir die Erbschaft im ersten Schritt zunächst unberührt. Für den sozialen Ausgleich aber sorgt eine Beteiligung des Staates. Wir beteiligen den Staat an der Hinterlassenschaft. Durch die fällige Erbschaftsteuer. Ausgedrückt in Prozenten vom Wert des Nachlasses, der dem einzelnen Erben zufließt. Bis zur Hälfte kassiert der Staat. So das Erbschaftsteuergesetz.

50 Prozent sind ein großer Schluck aus der Pulle. Der Staat nimmt es den Erben. Und gibt es dem Gemeinwesen, das allemal bedürftiger erscheint als die durch Todesfälle Begünstigten. Damit werden zwar die Kinder vermögensloser Erblasser nicht reicher, aber manchmal scheint der Rechtsfrieden ja schon dadurch wiederhergestellt werden zu können, dass alle weniger haben als zuvor. Ganze Volkswirtschaften haben bis zu ihrem Untergang der Verteilung der Güter mehr Wert beigemessen als deren absoluter Größe. Man mag Zweifel haben, ob dies der richtige Weg ist, mehr Chancengleichheit unter den Kindern zu vermitteln. Man könnte darüber diskutieren, wenn es sich lohnte. Aber: Es lohnt sich nicht, denn der Staat nimmt dem Erben nicht die Hälfte des Nachlasses durch die Steuer wieder weg.

Die Erben werden vom Fiskus gar nicht erst behelligt. Sie können ihre Erbschaften voll und in ganzer Höhe genießen. Ohne Abzüge, ohne Erbschaftsteuer. Jedenfalls die meisten unter ihnen. Insbesondere die Kinder des Verstorbenen. Denn sie haben hohe Freibeträge und wenn sie dann einmal mit dem Nachlass doch zu viel des Guten für sich verbuchen können, dann werden die steuerlichen Folgen durch einen besonders niedrigen Steuersatz in einer für Vermögende wohl erträglichen Weise abgemildert. So erfährt der Begriff des Erbgutes eine natürlich anmutende Begriffserweiterung: Zum Erbgut zählt wie seit unvordenklicher Zeit auch das materielle Erbe, das die Eltern ihren Kindern hinterlassen. Die Schere zwischen vermögenden und nicht vermögenden Familien wird sich wohl auch in Zukunft weiter öffnen.

Die Erben und Nicht-Erben sind unter uns. Sie müssen es richten. Doch die Chancen auf Besserung stehen nicht gut. Denn es geht um eine politische Lösung. Wer aber wollte sich an einer Korrektur des Erbrechts versuchen? Welcher Parlamentarier wäre bereit, sich so sehr an seinen und den Interessen seiner Familie zu versündigen? Nicht einmal Abgeordnete aus den Reihen der Nicht-Erben. Jetzt, wo sie sich gerade im Kreis derer eingerichtet haben, denen die ganze Fürsorge unseres Staates gilt, die der Staat großzügig alimentiert? Im Kreis der Abgeordneten, an deren Karriereende noch etwas übrigbleibt. Für die Kinder. Für wen sonst?

Im April 2015

Metallbearbeitung

OLYMPUS DIGITAL CAMERAVerstehen Sie etwas von Metallbearbeitung? Haben Sie eine Metallsäge? Dann sägen Sie mal schön. Qietschend rutscht das Blatt über das zu teilende Metall. Bis es schließlich Halt findet, sich seine kleinen Zähne im Material verbeißen und ihm kleine Späne entreißen. Ein Spalt entsteht, wird größer und frisst sich durch das Werkstück, bis er ein Stück abtrennt, das mit metallischem Klang auf den Boden fällt. Wenn alles gut geht. Wenn alles richtig läuft.

Metall gehorcht mir nicht. Noch nicht einmal das Sägeblatt. Es stellt sich stumpf, hat Zähnchen ohne Biss. Hämisch leistet das Werkstück zähen Widerstand. Es beugt sich nicht, lässt sich nicht verbiegen. Das Metall mag mich nicht, will sich von mir nicht formen lassen. Selbst nicht bei Anwendung blanker Gewalt. Dann schießt es durch den Raum, schlägt klirrend an und versteckt sich dann vor mir. Wohl wartend auf jemanden, der etwas von Metallbearbeitung versteht.

Im April 2015

Michel leidet

Michel leidet. Im Radio ein Kommentar zur Wirtschaftslage. Feindlicher Angriff. Kapital lauert auf Beute. Internationale Investment- und Hedgefonds fallen über unsere Aktien her. Deutschland AG, dein letztes Stündlein hat geschlagen.

Genug gehört. Der Rest ist bekannt. Jobs ade. Über Vierzig? Keine Chance. Kein Zaun zur Welt. Die Buchsbaumhecke ist zertrampelt, unser Rosenbeet verwüstet, unsere Idylle zerstört. Vorbei ist´s mit der deutschen Gemütlichkeit. Selbst Amtsstuben bieten kein Zuhause mehr. Durch zerbrochene Scheiben zieht eisiger Wind ein. Michel hat Husten und Weltschmerz. Er ist elend dran. Michel leidet.

Im Juli 2005

Kompass

Sie schreien uns schon zum Frühstück an, lugen aus gewöhnlichen Tageszeitungen und sind aus keinem Briefkasten wegzudenken: Top-Angebote, jede Woche neu. Bunte Verführung. Bis heute wusste ich nicht, dass ich dringend eine sportliche Armbanduhr mit integriertem Kompass brauche. Naive Leichtfertigkeit, ohne sie aus dem Haus zu gehen. Wie schnell hätte ich vom Weg oder gar vom Pfad der Tugend abkommen können? Überstunden für meinen Schutzengel. Danke nachträglich. Meine alte, rostige Schere, Qualität aus Solingen, zerbeißt den Blister der Verpackung. Behutsam entnehme ich meinen Schatz. Er schmiegt sich um meinen Arm, touchiert mein Handgelenk. Bedeutungsvoll und schwer.

Erst mal einstellen. Die Uhr wandert auf den Tisch. Die Gebrauchsanweisung in sechs Sprachen verstehe ich nicht, nicht mal in Deutsch. Eine miserable Übersetzung aus dem Chinesischen. In einer Stunde kommt mein Filius aus der Schule. Der kann´s auch ohne Bedienungsanleitung. Und wenn er die versprochene Eins in Mathe nach Hause bringt, gehört die Uhr ihm.

Ich betrachte meine sportliche Armbanduhr mit integriertem Kompass. Billiger chinesischer Kram mit falscher Zeitangabe; mein Sohn wird sie einstellen. Aber der Kompass funktioniert schon.

Im Juli 2005

Unfreiwillig geboren

Geboren werden wir nicht freiwillig. Wir werden gar nicht erst gefragt, ob wir denn lieber heute als morgen oder lieber gar nicht, oder ob wir womöglich lieber gestern hätte geboren werden wollen. In der „guten alten Zeit“ oder in ferner Zukunft, wenn medizinischer Fortschritt den „neuen Menschen“ geschaffen haben wird. Wir werden ignoriert, so lange es uns noch nicht gibt. Ein gelebtes Selbstbestimmungsrecht sieht anders aus. Niemand fragt uns, ob wir diese Welt wollen, die uns als die unsere angedient wird. Mit all ihren Macken und mit all ihren Tücken. Mit Krieg und Frieden und Gerechtigkeit, die es nicht gibt.

So bleibt uns am Ende nur das stille Erdulden dessen, was ohne unser Zutun geschieht. Uns und allen anderen, die gestern, heute oder morgen dasselbe Schicksal ereilt hat oder ereilen wird. Millionenfach entlassen in eine Welt, die sie sich nicht ausgesucht haben, die gestern noch anders aussah und morgen anders als heute aussehen wird. In der es an allen Ecken brennt, die ständig nach der Feuerwehr ruft und Katastrophenalarm gibt. In der es ganz schön schwierig ist, einigermaßen die Übersicht zu bewahren. Über die Art und das Ausmaß der täglichen Bedrohungen, die uns aus den Medien entgegenfiebern. In eine Welt, die wir zu verstehen suchen, um sie ein kleines bisschen nach unseren Vorstellungen zu entwickeln. Wie Generationen vor uns, die alle unfreiwillig geboren wurden.

Im April 2015

Nachahmung

OLYMPUS DIGITAL CAMERAWenn sie erst auf der Messe zu sehen sind, ist es meistens schon viel zu spät. Plagiate. Manch Unternehmer wundert sich, „seine“ Produkte auf einem der Nachbarstände neu zu entdecken. Sehr ähnlich. Zum Verwechseln ähnlich. Da kocht die Seele des Entwicklers.

Vorsorglich nachgeahmt werden auch Gestaltungselemente, die Form der Kühlrippen etwa. Man kann ja nie wissen. Es wird schon seinen Sinn haben. Das Logo? Nein, es ist nicht identisch. Es ist nur gleich. Dissonanter Respekt vor der Leistung des Urhebers. Fremde Mentalitäten.

Plagiate sind das Ergebnis sorgfältiger Suche nach Gelegenheiten, gewissenhafter Beobachtung, fotografisch exakter Dokumentation und Vermessung. Und schließlich der verfahrenstechnischen Umsetzung. Ein ganzes Stück Arbeit steckt dahinter. Und nicht selten ein Auftrag. Hut ab? Nein.

Trotzdem: Originale sind die Ausnahme, Kopien die Regel. Nachahmung beherrscht unseren Alltag, lässt Ideen zu Trends werden und Erfindungen zu Produkten, Produkte zu Fundamenten neuer Erfindungen und Entwicklungen. Ob Einreiher oder Zweireiher, mit langen oder kurzen Revers, selbst die Anzüge der Business-Class haben einen gemeinsamen Urvater. Das Leben selbst, jede Art, reproduziert sich nach überlieferten Mustern. Und liefert immer neue Varianten.

Wo in der Wirtschaft spioniert und kopiert wird, wo aus Originalen Fälschungen und mit Fälschungen Geschäfte gemacht werden, da beginnt die knallharte Konkurrenz. Mit Mitteln, die verboten sind. Vor denen mittelständische Unternehmen schnell kapitulieren. Zu der Last oft jahrelanger Entwicklungsarbeit kommt jetzt noch eins oben drauf: Sie führen einen wenig aussichtsreichen, aber umso teureren Kampf gegen einen kaum greifbaren Gegner. Jetzt wird prozessiert statt entwickelt. Tribut an die Leistung vergangener Tage. Und ein zweifelhafter Versuch, die Zeit anzuhalten und bereits Geschehenes ungeschehen zu machen.

Was tun? Klein beigeben? Sollen wir Betriebsgeheimnisse gleich der globalen Meute vorwerfen? Mit ewig unergründlichem Lächeln (Achtung Kopie!) und bester Empfehlung? Nein. Zu wissen, dass immer jemand da ist, der kopieren will, ist wichtig. Stets danach zu handeln, ein Gebot. Die Ratschläge dazu sind bekannt, ihre Umsetzung ist schwierig. Von der Betriebsorganisation, über sichere Datenwege bis hin zu sorgsamem Umgang mit netten, aber nicht immer vertrauenswürdigen Partnern, gibt es zahlreiche Gelegenheiten, die unserer besonderen Aufmerksamkeit bedürfen. Und sonst? Ja, für international fairen Wettbewerb eintreten, in der Leistung gegen Diebstahl versichert ist. Das sollten wir anstreben, auch bei dürftigen Erfolgsaussichten.

Was wird? Auch in Zukunft werden gute Ideen kopiert. Wohl dem, der sie am schnellsten am Markt platziert. Am nächsten dran ist der Erfinder selbst. Er sollte Erster sein. Im Wettbewerb zählt jeder Tag. Eine Kopie läuft dem Original stets hinterher. Es besteht deshalb hinreichender Anlass, weiterhin auf eigene Ideen und Entwicklungen – auf Innovation – zu setzen. Mit kühlem Kopf. Selbst wenn Kopieren erlaubt wäre, wäre es nicht anders.

Im Mai 2010

Globaler Katzenjammer

OLYMPUS DIGITAL CAMERAAnlagestrategen schreiben die Wirtschaftsgeschichte unserer Welt. Auf ihrer kippeligen Gratwanderung zwischen Gewinn und Verlust schießen sie Milliarden um den Globus. Im Sekundentakt, online. Rendite heißt ihr Auftrag, Provision ihr Antrieb. Geliehenes Geld. Verbrieft, testiert und garantiert. Von wem auch immer. Hauptsache man glaubt daran. Stets dabei: die Medien, deren Nachrichten zeitgleich mit dem Druck auf die „Enter-Taste“ eines Computers auf die Menschheit losgelassen werden.

So funktioniert die Finanzwelt nun einmal, lässt Unternehmen aufblühen und untergehen, Standorte prosperieren und verkümmern. Wohl nie zuvor haben so viele Volkswirtschaften so intensive Phasen des wirtschaftlichen Aufstiegs erlebt wie in den letzten Jahren. Auch wir haben gut davon gelebt. Zweistellige Ausfuhrsteigerungen jährlich, ein Arbeitspensum, das mit drei Schichten kaum noch zu bewältigen war, wir haben geschuftet bis zum Umfallen. Und gut verdient. Und doch: Irgendetwas ist schief gelaufen. Irgendwo.

Das Übel ist schnell ausgemacht: Es waren raffgierige Immobilienfinanzierer, die in den fernen USA armen und zudem ahnungslosen Bürgern in unverantwortlicher Weise Hypothekenkredite angedreht, diese dann schön verpackt und anschließend mit erstklassigen Testaten weiterverhökert haben – an ebenso ahnungslose – aber (noch) nicht arme – Banken. Wirtschaftsbetrüger waren es. Heile Welt, du bist gerettet. Wir waren es nicht. Wir sind nur Opfer. Gott sei Dank. Wir machen weiter wie bisher.

Wäre da nicht diese furchtbare Krise. Allgegenwärtige Hiobsbotschaften gieren danach, täglich noch ein Schüppchen Horror draufzulegen. Gruselkabinett der öffentlichen Stimmungsmache. Zu informieren ist eigentlich nur über einen einfachen Vorgang mit seinen ganz natürlichen Folgen: Das außerordentliche Konjunkturhoch ist vorbei. Wir kehren zur Normalität zurück. Allem Augenschein nach wird es auch Umsatzrückgänge geben. Das ist nicht schön, aber auch noch nicht bedrohlich, wäre da nicht das globale Stimmungstief. Doch der globale Katzenjammer kommt nicht von ungefähr. Wenn selbst russische Milliardäre keine rauschenden Orgien mehr feiern können, muss es wohl schlimm bestellt sein. Schrecken ist ein idealer Stoff für die Massenmedien. Er trifft ins Herz, bewegt das Gemüt. Wie ein tückisches Virus dringt er in den geistigen Kosmos der Menschen ein und beginnt dort sein zerstörerisches Werk. Wenn Wirtschaft viel mit Psychologie zu tun hat, dann hier. Über die Medien wird sie zum globalen Massenphänomen. Folge: globaler Katzenjammer in der Höhe seiner Blüte.

Doch es besteht berechtigte Hoffnung, dass die Blütezeit des Katzenjammers nur von kurzer Dauer ist. Auf der Welt lauern Milliarden Menschen in seltener Eintracht mit der Politik auf die erste Gelegenheit, weiterzumachen. Die Welt ist voller Überraschungen. Und es wird anders kommen, als es die heutigen Prophezeiungen verheißen. Warum sollten wir nicht selbst für Überraschungen sorgen? Eine neue Idee, ein Geschäft, das ideal in die jetzige Zeit passt? Vielleicht gönnen wir uns jetzt einmal eine Stunde des Nachdenkens. Resignation und Depression sind fehl am Platz. Wer von den großen Chancen bewegter Zeiten weiß, wird die gegenwärtige Lage mit kreativen Ideen nutzen. Machen wir uns nichts vor: Nach der Krise werden wir nicht weitermachen können wie bisher. Wir sollten gut darauf vorbereitet sein.

Januar 2009

Urlaubsflieger

In steilem Steigflug erhebt sich die Ladung der gebräunten Badegäste von der Urlaubsinsel. Ziel ist der heimatliche Flughafen, von dem sie sich per Auto, Bahn oder Bus verteilen, bis sie ihr Zuhause wieder erreicht haben. Voller Eindrücke, Erinnerungen und Reiseandenken. Das Konto ist auf Diät gegangen, hat merklich abgenommen. So soll es sein. So muss es wohl sein. So ist es vorgesehen. In der Branche, die unser Verlangen nach Abwechslung, nach Entspannung, nach Erlebnis und nach ein bisschen Luxus zu erfüllen verspricht.

Lebende Frachten, die ihr Geld auf die Insel tragen. Und dann wieder abreisen. Menschliches Gut in einer Logistikkette, die keinen anderen Zweck zu verfolgen scheint, als das Geschäft mit dem Urlaub zu befördern. Die Menschen haben sich freiwillig entschieden, hierher zu reisen. Sie sind bereit, ihre Ersparnisse an diesem Ort auszugeben. Sie träumen und genießen und genießen ihre Träume. Vor und nach der Reise. Und bisweilen auch während des Urlaubsaufenthaltes selbst. Ich muss zugeben: Ich war selbst dabei.

Die startenden und die ankommenden Flieger – sie haben Spuren in mir hinterlassen, dieses Reisegeschäft, von dessen fragiler Existenz das Wohl einer ganzen Insel abhängig scheint, habe ich verstanden, aber wohl nicht ganz begriffen. Vielleicht ist es schon zu sehr in unseren Alltag eingezogen, als dass es auch nur geringste Zweifel an seiner Rechtfertigung geben könnte. Ist es nicht ein dekadentes Unterfangen?

Die Welt fliegt auseinander und findet allerorten auf dem Luftwege wieder zusammen. Über alle geografischen und politischen Grenzen hinweg. Und allen Umweltbedenken zum Trotz.

Die Grenzen zwischen Arm und Reich aber scheinen unüberwindlich.

Im März 2015

Von Amts wegen

 

 

 

 

 

Halten Sie einmal die Luft an.
Wechseln Sie die Seiten.
Seien Sie mal ganz Amt.
Handeln Sie von Amts wegen.

Nehmen Sie den Posteingang zur Hand.
Das Formular ist nur unvollständig ausgefüllt.
Es fehlen Angaben.
Ohne die gibt es keine Entscheidung.

Machen Sie sich´s jetzt leicht?
Oder rufen Sie an?
Weisen auf die Mängel hin?
Ganz bürgerfreundlich?

Sie machen sich´s nicht leicht.
Sie rufen den Delinquenten an.
Und ernten Undank.
Vom freundlichen Bürger.

Sie können auch anders.
Das steht im Gesetz.
Wenn´s denn sein muss,
Muss es eben sein.

Sie lehnen ab,
Geben formale Gründe an.
Amtlich korrekt.
Zustellung schon morgen.

Der Schreibtisch ist blank.
Ein Vorgang ist erledigt.
Feierabend für heute.
Auch das ist amtlich.

Halten Sie jetzt lieber die Luft an.

Im März 2015

Schritt in die Selbständigkeit

Es war wohl blanker Übermut, mich so ins Geschäft zu stürzen, den Vertrag aufzukündigen, der mir meinen monatlichen Lohn versprach, der mir täglich neu die Zuversicht gab, morgen meine Ausgaben bestreiten und meine bescheidenen Ansprüche finanzieren zu können. Jetzt stehe ich allein auf weiter Flur. Trotz aller Berater. Trotz aller Freunde, die mir viel Glück wünschen. Meine Familie glaubt an mich und mein Vorhaben. Sie freut sich mit unterdrücktem Unbehagen auf meine Erfolge, die sie bald mit mir teilen will. So wie meine Kreditgeber, die gerne bereit waren, gegen gehörige Sicherheiten mit mir ins Risiko zu gehen, mir ihr von anderen geliehenes Geld zu geben in der Erwartung auskömmlicher Renditen. In Gedanken sind viele Menschen bei mir, fiebern mit mir um jeden Punkt, den ich in der neuen Arena für mich verbuchen kann. Gegen meine Wettbewerber. Es wäre doch gelacht!

Meine Wettbewerber entpuppen sich als resistent. Trotz ihrer Schwächen, deren Ausmaß mein Konzept in fast beschämender Weise beflügelt hatte. Sie haben schwer einnehmbare Festungen aufgebaut, feste Vertragsbeziehungen, allerorts präsente Marken, feine Netze, deren Fäden weit reichen. Ein festes Gefüge wehrt sich gegen Eindringlinge. Oft genug, weil´s so bequemer ist. Vertrautes verlangt keine besondere Anstrengung. Neues schon. Um dem Gefüge Steine zu entreißen, bedarf es mehr als bloßer Überzeugungsarbeit. Ich lerne, Gelegenheiten zu erkennen und sie zu nutzen. Ich lerne, wie wer weshalb mit wem zusammenarbeitet. Ich füge mich ein, baue mir mein Haus, meine Marken und meine Netze, bis ich Teil des Ganzen bin. Der Wettbewerb erweist sich als ausgesprochen zäher, aber doch berechenbarer Widersacher, der mein weiteres Erwerbsleben von nun an hartnäckig begleiten wird.

Und doch schlafe ich schlecht. Und zu wenig. Ich habe das Gefühl, Wichtiges übersehen zu haben. Ich habe das Gefühl, Meldungen nicht rechtzeitig oder nicht korrekt abgegeben zu haben oder meine Pflichten gegenüber den Beschäftigten, dem Fiskus oder der sonstigen öffentlichen Hand gegenüber in strafbarer Weise zu verletzen. Wann? Eigentlich täglich. Denn täglich gibt es neue Überraschungen. Fragebögen amtlicher und nichtamtlicher Stellen, Erklärungsfristen und Erklärungsvordrucke, deren Auskunftsbegehren sich mir nicht erschließen, vor denen ich mit halbwegs wachem Verstand sitze und doch nicht auszufüllen imstande bin. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass ja alles gut begründet ist, dass die zahlreichen Stellen, deren Formulare und Begehren ich wie im Akkord zu erledigen suche, nichts mehr als gesetzlich Gebotenes fordern, dass sie alle ja gar nicht anders können, als mich mit solchen Fragen zu behelligen, dass es ihnen womöglich selbst ein bisschen Leid tut. Von dem einen oder anderen noch nicht zu ausreichender Güte gereiften Zeitgenossen einmal abgesehen.

Ich lerne zu fakturieren, zu buchen, Steuererklärungen abzugeben, noch bevor ich den ersten bescheidenen Auftrag erledigen darf. Nach einem bösen Reinfall lerne ich, betrügerische Machenschaften unseriöser Verlage blitzschnell zu erkennen und dem Papierkorb zu übergeben. Ich erfahre, welch tückische Fallen jede der Werbemaßnahmen in sich birgt, die geeignet erscheint, hinreichende Aufmerksamkeit möglicher Kunden zu erheischen. Ich stelle fest, dass auch der Internetauftritt als willkommenes Einfallstor für Abmahnungen jedweder Art dient. Ich nehme zähneknirschend in Kauf, dass Anwalts- und Gerichtskosten in beträchtlicher Höhe sowie der an meinen Steuerberater und die vielen Serviceunternehmen zu leistende Obolus von einem Konto zu leisten sind, dessen Bestände sich über weite Strecken in unvermindertem Sinkflug befinden.

Ich versuche mein Glück mit 450 Euro- Kräften und verzweifle an den Fallstricken der gesetzlichen Vereinfachungsvorschriften zum Sozialversichungs- und Steuerrecht. Ich erfahre, dass die Verbraucherschutzvorschriften für mich als Unternehmer im Geschäft nicht mehr gelten, dass ich aufpassen muss wie ein Luchs, damit mir auch keine kleinen Patzer passieren.

Ich schaffe mir Allgemeine Geschäftsbedingungen, die ich irgendwo zusammenkopiere, ohne sie zu verstehen. Man kann ja nie wissen wofür es einmal gut ist. Ich soll eine Erklärung unterzeichnen, wonach ich meinen Mitarbeitern nicht weniger zahle als den gesetzlichen Mindestlohn und weiß nicht, warum. Später erfahre ich etwas von einem Haftungsrisiko, das ich tragen soll, wenn ich ein anderes Unternehmen einschalte, bei dem ich nicht sicher bin, dass es das Mindestlohngesetz beachtet. Mein Anwalt rät mir, ebenfalls Formulare an alle Lieferanten zu senden. Die anschließenden Diskussionen mit den Lieferanten rauben mir den letzten Nerv. Denn ich verstehe die Maßnahme ja selbst nicht.

In Kürze erwarten mich die Vorbereitungen zur ISO- Zertifizierung. Ich komme nicht drumherum. Sonst gibt es keine Aufträge mehr. Ich stelle mich drauf ein. Meine Bank hat mir freundlicherweise das Dispolimit erhöht. Klar, dass es das nicht umsonst gibt. Sie kann die Zinsen ja gleich vom Überziehungskredit nehmen. Ich bekomme täglich Post von Verbänden, von Unternehmen, von Problemlösern, die mir in rührender Weise helfen wollen. Mit ihrem Rat. Nicht als Mitunternehmer. Mit Komplettlösungen für Probleme, von deren Existenz ich bisher noch keine Ahnung hatte. Seither schlafe ich noch schlechter.

Ich habe es aufgegeben, alles richtig machen zu wollen. Riskiere Fehler. Riskiere Versäumnisse. Und siehe da: Papier ist tatsächlich geduldig. Vieles fällt gar nicht auf. Und ich habe Zeit für mein Geschäft. Ich verdiene erstes Geld. Einen Teil habe ich schon für meinen Anwalt zur Seite gelegt. Für den Fall der Fälle. Man kann ja nie wissen. Er wird´s dann schon richten.

Im März 2015

Wetterfühlig

Meine Stimmung ist auf dem Tiefpunkt. Wasser rinnt die Scheiben entlang. Böen schieben die schwere Luft ins Gemäuer. Regentropfen zerplatzen auf dem Fenstersims. Unwirtliches Grau wabert in den Raum. Dabei könnte die Sonne scheinen. Dabei könnte es Frühling sein. Es ist bereits Ende März. Für Novembergrau ist es zu spät. Zu früh für die Launen des Aprils, die uns schon in wenigen Tagen für einen Monat lang viel Gleichmut abfordern werden.

Es ist nicht kalt. Es ist schlimmer. So empfinden wir´s. Und so ist´s deshalb auch. Für uns. Wir haben Regen genug, sind seiner überdrüssig, scheuen sein durchdringendes Nass. Wir wenigen, die in einem Klima voller Wasser leben, mit saftigem Grün, mit paradiesischem Reichtum der Natur. Aber wir sind nur wenige.

Ich steige einmal aus, wandere in meinen Gedanken in ein Land diesseits oder jenseits des Äquators, in dem mich die Glut der Sonnenhitze ausdörrt, in dem der Staub das Leben verkrustet, in dem der Regen ein zu seltener Gast ist. Ein Vermögen gäbe ich für reichlich Regen wie heute. Mit Wasser, das die Scheibe entlang rinnt. Wie hier und heute. Welch Glücksgefühl.

Im März 2015

El Medano

OLYMPUS DIGITAL CAMERATeneriffa. El Medano. Ein verlorener Ort, überschaubar, in wenigen Stunden zu durchschreiten. Leben in anderen Gemäuern. Familien bevölkern die Plätze. Eine Symbiose aus Jung und Alt, Ausgestiegenen und Ausgeflippten. Unbekannte Gesichter, die mir schon nach wenigen Tagen vertraut sein werden. Dann, wenn es Zeit ist, wieder zu gehen, den Rückflug anzutreten. Ein fremdes Klima. Vulkanischer Boden, veredelt mit Dünensand aus der Sahara. Genügsame Pflanzen mit sonderbarer Anmutung knospen aus diesem Grund. Die Klangkulisse folgt dem Gezeitenwechsel des Meeres und des Tages Stunde. Verzauberte Stimmen, Kinderlachen und das Gespiel der Straßenmusiker fliegen vorbei. Erst in der Nacht kehrt rauschende Ruhe ein. Über mir die Sonne. Ohne Umwege trifft mich ihr heißes Licht. Scharfer Ostwind kühlt unablässig meine versengte Haut. Es ist gleißend hell, doch nach und nach leuchten die Schätze wieder auf, zeigen in der Dämmerung ihr ganzes Farbenspiel. Fotografenzeit. Zeit für die Sprache der Bilder. Faszinierende Impressionen, die ich als kostbares Gut nach Hause trage. Zur Erinnerung an einen verlorenen Ort. El Medano. Teneriffa.

Quer gelegt

Legen Sie sich doch einfach mal quer. In Ihrem Bett zum Beispiel. Legen Sie sich mal um 90 Grad verdreht hin. Verlassen Sie die Längsausrichtung, achten Sie aber darauf, dass Ihr Schwerpunkt über der Matratze liegt. Das Ergebnis: Der Kopf über der Bettkante und die Füße schwebend über dem Boden der anderen Seite versprechen keine besonders geruhsame Nacht. Es ist grässlich unbequem und ungewohnt anders. Offenkundig aber nicht besser als sonst. Denn es raubt uns den Schlaf. Unsere Reaktion ist klar: Zurück auf die Ausgangsposition. Bett und Mensch finden wieder ihre Linie. Die gemeinsame. Wie gewohnt. Und wir könnten wieder rund um die Uhr schlafen. Es bleibt, wie es ist.

So weit darf es nicht kommen. Schließen sie aus, in die Ausgangsposition zurückzugehen. Bleiben Sie einfach quer liegen. Verbeißen Sie sich den Schmerz. Nehmen Sie die Strapazen in Kauf. Die Genickstarre, die kalten Füße, den fehlenden Schlaf und die Schatten unter Ihren Augen.

Sie werden die ungeübte Lage nicht lange aushalten. Ein Ringen wird einsetzen zwischen der körperlichen Qual queren Schlafs und der Anstrengung, die Ihr Denkapparat leistet, Ihnen Ihre erholsame Nachtruhe zurückzubringen. Ihr Geist wird siegen. Sie werden Möbel erfinden und Desingerpreise ernten.

Legen Sie sich doch einfach mal quer. Einfach so. Und nicht nur in Ihrem Bett.

Im Februar 2015

Lebenszeit

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Wir haben Zeit.
Unsere Zeit.
Nur diese eine.

Wir verlieren keine Zeit.
Sie ist in uns.
Und wir sind in ihr.

Wir gewinnen keine Zeit.
Sie geht mit uns vorbei.
Und wir mit ihr.

Wir verkaufen keine Zeit.
Wir verkaufen uns.
Mit unserer Zeit.

Unsere Zeit
bleibt uns bis zuletzt.
Und zieht dann weiter.

Im Februar 2015

Überdosis

OLYMPUS DIGITAL CAMERAEine kleine Dosis. Diese Pille ist völlig unschädlich, bringt niemanden um. Das bisschen Aufwand, Allergenen nachzuspüren, sie zu dokumentieren und zu erläutern, ist nicht der Rede wert. Wenn das alles ist. Damit kann der Wirt leben. Damit könnte er leben, wenn das alles wäre. Ist es aber nicht.

Diese kleine Pille gesellt sich zu ihren zahlreichen fortpflanzungsfreudigen Artverwandten, die sich längst im Betrieb eingerichtet haben und fleißig an der wertvollsten Ressource des Wirtes zehren: an seiner Zeit. Sie kommen als ungebetene Gäste, zahlen nicht und lassen sich auch von Sperrstunden nicht beeindrucken. Für alle Zeiten, so scheint es. Gäste, die womöglich Kinder kriegen und Kindeskinder. Bis ihr Wirt erledigt ist.

Dabei ist der Wirt gar nicht krank. Er schluckt die Pillen, die für das Wohlergehen anderer bestimmt sind. Die Arbeitsschutzauflagen dienen nicht ihm, sondern den Mitarbeitern. Die Arbeitszeitgrenzen sowie die Verpflichtung zum Mindestlohn ebenso. Der Wirt darf sich sich seine Zeit im Übermaß nehmen. Er darf sich auch zu jedem Stundensatz selbst ausbeuten. Ihm hilft die Pille nicht. Die Hygienevorschriften dienen den Gästen, die Stellplatzpflicht sowie die Mindestlohndokumentationspflichten der öffentlichen Ordnung, die Gestaltungsregeln dem Stadtbild, die Rechnungslegungsvorschriften der stets fordernden öffentlichen Hand. Nicht ihm, dem Wirt. Wir wissen gar nicht mehr, was sonst noch so alles gilt, haben den Überblick längst verloren – und mit ihm die Kontrolle über die schädlichen Wirkungen des hoheitlich verschriebenen Chemikaliencocktails. Und doch, so scheint es, ist die tödliche Dosis längst verordnet.

Noch hat der Wirt nicht alle Rezepte eingelöst und alle Pillen geschluckt. Er ist ja nicht krank. Nur ein bisschen überarbeitet. Sonst wäre es mit ihm wohl schon vorbei.

 Im Februar 2015

Null-Fehler

OLYMPUS DIGITAL CAMERANull-Fehler. Hochdruck in den Hirnen. Der Pegel steigt. Volle Konzentration. Alarmstufe Rot. Gebannt steuern wir auf das Ergebnis zu: Null-Fehler. Und die Welt fährt mit uns Schlitten. Bravo.

Im Februar 2015

 

Reisen

OLYMPUS DIGITAL CAMERAGute Aussichten. Aus dem Fenster, auf den Garten hinterm Haus. Kohlmeisen, Amseln, Buchfinken und sogar ein Zeisig landen auf knochigem Baumgerüst, wippen und kippen, äugen links und rechts, lüften das Gefieder und schwingen sich davon. Dazwischen Stille, nur unterbrochen durch vereinzelte Stimmen, fernes Motorrauschen und klappende Türen. Der Himmel hat sich zugezogen. Ich sitze in der ersten Reihe. Und warte. Es ist ein erwartungs- und anspruchsloses, ein geduldiges Warten. Worauf? Ich weiß es nicht, stelle keine Fragen. Rühre mich nicht. Doch die immer gleiche Kulisse ödet mich an. Ich erhebe mich, durchschreite die Kulisse und gehe auf Reisen. Gute Aussichten.

Im Februar 2015

Umweltschutz

OLYMPUS DIGITAL CAMERADie Welt. All das, was ist. All das, was sein wird. All das, was morgen nicht sein wird, wie es heute ist. All das wollen wir vor dem Untergang bewahren. Oder etwa nicht?

Nein, nicht alles. Es geht um mehr als die Welt und um weniger: Es geht um die Umwelt. Ein herrlicher Begriff, diese Umwelt: Es geht um die Welt um uns herum. Und siehe da: Die Welt hat endlich eine neue Achse. Sie dreht sich jetzt um uns. Um uns allein. Unsere kleine Welt. Daran darf sich natürlich nichts ändern. Der Schutz unserer Umwelt ist uns schon ein sehr ernstes Anliegen.

Im Februar 2015

Narren

OLYMPUS DIGITAL CAMERADie Narren sind mitten unter uns. Doch wir erkennen sie nicht. Sie haben sich verkleidet. Sehen aus, wie du und ich. Seriös beschlipst und gewandet. Geschliffen im Geschäft. Wortgewaltig und wendig bewegen sie sich sicher durch alle Instanzen. Beifällig bedacht mit Ämtern und Würden. Sie leiden keine Not. Mitten unter uns Narren.

Im Februar 2015

Hier dreht sich nichts

OLYMPUS DIGITAL CAMERADie Welt dreht sich schneller. 1.660 Ergebnisse spuckt die große Suchmaschine des Internets aus, gibt man diese Wortfolge ein. Fügt man das kleine Adverb „immer“ ein, kann man die Suchergebnisse glatt mehr als verdoppeln auf 3.530. Trotzdem trifft weder die eine, noch die andere Behauptung zu. Am wenigsten die zweite. Denn die Welt dreht sich überhaupt nicht. Schon gar nicht um uns. Bis zum Beweis des Gegenteils. Bleiben wir also gelassen. Hier dreht sich nichts.

Auch wenn sich hier nichts dreht, heißt das nicht, dass nicht der eine oder andere bei Gelegenheit ein größeres Rad zu drehen geneigt sein könnte. Auszuschließen ist nicht, dass der eine oder andere bei Gelegenheit geneigt sein könnte, uns in einen Schwindel zu versetzen, in einen Rausch, der uns die Sinne raubt und mit dem Raub der Sinne auf unseren klaren Geist zielt, unseren Verstand zu erobern versucht. Mit dem einen oder anderen Dreh.

Rädern, an denen andere drehen, aber sollten wir nicht aufsitzen. Dann verfallen wir auch nicht der Illusion, die Welt drehe sich um uns. Und dann auch noch schneller und immer schneller. Warum sollte sie das auch tun? Unsere erhabene Welt?

Im Februar 2015

Transatlantisch offene Umweltzone

OLYMPUS DIGITAL CAMERADie Europäische Kommission verhandelt mit den USA über eine transatlantische Partnerschaft, in der Marktzugangshemmnisse fallen und der Weg für den Austausch von Gütern und anderen Leistungen geebnet werden sollen. Jedenfalls bis zur Umweltzone der Stadt Siegen, die soeben einen eigenen Schutzbereich rund um die Wohnungen und Geschäftsansiedlungen von Siegen-Mitte bis Weidenau eingerichtet hat, den legal nur befahren kann, wer mit einer grünen Plakette hinter der Windschutzscheibe seines Wagens dokumentiert, dass der Ausstoß umweltschädlicher Gase bestimmte Grenzwerte nicht übersteigt.

Das sind klare Spielregeln. Und es kann ja auch nicht schwer sein, sie einzuhalten. Auch nicht für den niederländischen Frachtführer, der im Rotterdamer Hafen eine Kiste mit elektronischen Bauteilen aus Massachussetts übernommen hat, die er an der Hagener Straße in Siegen anzuliefern hat. Er kann sich ja erkundigen. Und sich dann eine Grüne Plakette besorgen – wenn sein Fahrzeug die Grenzwerte einhält. Und wenn ihm das nach rechtschaffenem Bemühen gegen alle Erwartungen nicht gelingen sollte, kann er schließlich auch noch eine Ausnahmegenehmigung beantragen. Die Stadt Siegen hat eine Stelle eingerichtet, an die er sich wenden kann, um die Genehmigung zu beantragen. Eine nette junge Dame wird seinen Antrag sicherlich wohlwollend prüfen und unbürokratisch verfahren. Denn niemand will hier irgendwen in der Ausübung seines Berufs behindern. Natürlich sollen auch die Lieferungen ohne Probleme auf kurzem Wege und ohne Zeitverlust ankommen. Daran soll die Umweltzone nichts ändern. Also: Auf geht´s.

Mit der Grünen Plakette ist das so eine Sache: Die gibt es leider nur in Deutschland, etwa bei einer der Prüforganisationen, die auch die Hauptuntersuchungen der Kraftfahrzeuge ausführen. Da kann der ausländische Frachtführer doch einmal vorbeifahren. Und vorsprechen. Auch dort wird er sicherlich zuvorkommend bedient. Heute kann er die Plakette sogar online bestellen. Ein paar Klicks und ein paar Euro. Und schon ist die Sache rund. Wenn der Niederländer aber sowohl das Angebot der Prüforganisationen als auch des Grüne-Plaketten-Versandhandels ausschlagen sollte, dann muss er sich sagen lassen, dass wir dieses bisschen Mühe von ihm sicherlich erwartet hätten. Schließlich geht es uns um wichtige Umweltbelange. Die Umweltzone ist ja nicht aus Jux und Dollerei ausgewiesen worden.

Ach, der Niederländer stellt sich dumm? Er wusste angeblich nichts von der Umweltzone und der Grünen Plakette? Und auch nichts von den Wegen, auf denen diese zu erhalten ist? Es ist schon bemerkenswert, wie wenig sich die Leute um die Vorschriften kümmern. Er weiß doch genau, wohin die Reise geht, wo er die Fracht in Siegen abliefern muss. Noch einmal zu seiner Erinnerung: Unter der Adresse http://www.siegen.de/standard/page.sys/details/eintrag_id=7093/content_id=7372/574.htm findet er alle Informationen, die er braucht. Auf gut Deutsch. Nicht auf Niederländisch. Denn unsere Amtssprache ist Deutsch. Auch das sollte man wissen. Und wenn er sich ein bisschen angestrengt hätte, wäre ihm auch nicht verborgen geblieben, dass auch im Internet die Umweltzonen der deutschen Städte fein säuberlich erfasst sind.

Wenn er sich dieser kleinen Mühe nicht unterzieht, ist es kein Wunder, dass der Niederländer wohl tatsächlich ahnungslos ist und bleibt. Also: Einfach ein bisschen forschen. Denn dann wüsste er, wie er auch ohne Grüne Plakette seine Fracht auf legale Weise in Siegen löschen kann: Im Wege einer Ausnahmegenehmigung. Und das geht nun wirklich ganz einfach: Er legt seine Gewerbeanmeldung und seinen Lieferauftrag vor und schickt diese Unterlagen an die Stelle, die über seinen Ausnahmeantrag befinden soll. Und dann fügt er nur noch folgende Dokumente bei: die Kopie des Fahrzeugscheins, die Bescheinigung eines amtlich anerkannten Sachverständigen oder Prüfers für den Kraftfahrzeugverkehr oder eines Prüfingenieurs oder einer Fachwerkstatt. Inhalt: Das Fahrzeug kann technisch nicht auf geringere Emissionen umgestellt werden. Was den Antrag jetzt komplett macht, ist die Stellungnahme eines Steuerberaters, die dem niederländischen Frachtführer bestätigt, dass die Ersatzbeschaffung eines für die Zufahrt zur Umweltzone geeigneten Fahrzeuges zur Gefährdung seiner Existenz führen würde – dass er sozusagen praktisch pleite ist. Begründet bitte und in Deutsch. Auch die Gewerbeanmeldung, die niederländische. Und wenn er dann noch rasch 60 Euro überweist, wird er sich über die flotte deutsche Verwaltung wohl kaum beschweren können. Denn wir wollen eine offene Umweltzone für die transatlantische Partnerschaft. Also dann: Wir müssen alle unseren Beitrag zum Gelingen leisten. Auch der Niederländer mit seiner Ladung aus Rotterdams Hafen für Siegen-Mitte.

Im Februar 2015

Nahezu reglos

OLYMPUS DIGITAL CAMERAWie leicht ist es doch, die Welt zu bewegen. Nahezu reglos sitze ich hier. Nichts treibt mich in die harte Welt hinaus. Meine Finger spielen auf der Klaviatur der neuen Zeit, trippeln von Angebot zu Angebot, durchkämmen virtuos das Internet-Weltall. Meine Augen heften sich an Bilder und Buchstaben, die in rascher Folge Türen öffnen zu Menschen, die ähnlich oder anders denken, eigenwillig handeln und sich auf ihre Weise diesem und jenem, und vielleicht allen, mitteilen. Mit Angeboten, mit Fragen, mit ihrer ganzen Weisheit und ihrem ganzen Vermögen.

Es sind Menschen, die dies tun, um sich selbst zu finden. Um sich zu gefallen. Oder anderen. Und Menschen, die gar nicht im eigenen Interesse handeln. Menschen, die sich mitteilen müssen, sich jemandem angedient haben. Mit dem, was sie können. Gegen Bezahlung. Als Mitarbeiter oder als Chef. Für fremde Interessen. Im eigenen Namen unter fremdem Label. Des eigenen Lebens und Überlebens willens. Sie schicken Kontoauszüge in die elektronischen Medien und Versandhausware. Sie liefern Appetithäppchen für Dienste und Informationen für Unschlüssige, die zu gewinnen, größerer Mühe bedarf, als nur ein paar bunte Seiten zu liefern. Sie lesen in den Webstatistiken wie in Büchern, optimieren Suchwörter und Verfahren hier und dort und hängen wieder in den Statistiken, die ihnen Freude und Kummer in raschem Wechsel bescheren. Sie bewegen die Welt. Nahezu reglos .

Im Februar 2015

Seitenwechsel

Die politische Entscheidung, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, respektieren wir. Sie beruht auf einer Mehrheitsentscheidung unseres Parlaments und entspricht den Spielregeln unserer Demokratie. Und dennoch: Wir hätten gerne darauf verzichtet. Und so mancher Befürworter hätte sicherlich ein zweites Mal hingesehen, wenn er sich der Folgen für die Betriebe bewußt gewesen wäre oder sie auch nur geahnt hätte.

Ein sehr einfaches Beispiel aus dem Gastgewerbe: Eine 18- jährige Studentin hilft aus, wenn unerwartet eine Busladung voller hungriger Gäste eintrudelt, die auf Facebook und auf allen Internet-Bewertungportalen kein gutes Haar an dem Betrieb lassen werden, wenn die Versorgung nicht reibungslos klappt. Der Restaurantbesitzer braucht jetzt Hilfe. Auf diesen Ansturm ist er an diesem ruhigen Tage nicht vorbereitet. Doch er muss die Herausforderung meistern. Denn er lebt von seinem Betrieb. Und der ist noch nicht schuldenfrei.

Die Studentin hat nur diesen einen Job. Sie kann deshalb problemlos im Rahmen der 450-Euro- Regelung für Steuern und Sozialabgaben beschäftigt werden. Der Restaurantbesitzer ruft sie zuhause an. Sie lässt ihre Studienarbeit für ein paar Stunden ruhen und meldet sich im Betrieb. Die ersten Gäste sitzen bereits auf ihren Plätzen, warten auf Bedienung. Der Betrieb hat kein elektronisches Zeiterfassungssystem. Dafür ist er zu klein. Die Bürotür ist verschlossen. Der Inhaber und seine Frau werden im Restaurant gebraucht. Die Studentin notiert sich deshalb den Beginn ihrer Tätigkeit auf einem kleinen Zettel und steckt ihn in die Manteltasche. Später will sie die Stunden in eine Liste eintragen, die im Büro liegt. Sie macht sich an die Arbeit. Mehr als 3 Stunden ist sie gut beschäftigt. Dann macht sie sich auf den Heimweg. Zuhause zieht sie den Zettel aus der Tasche, sieht auf die Uhr und trägt ein, wann sie den Betrieb verlassen hat. Sie legt den Zettel zu den übrigen Aufzeichnungen, um in ein paar Tagen ihre Stunden mit dem Chef abzugleichen und aufzuschreiben. Erst einmal aber fährt sie für eine Woche mit Freunden an die Ostsee.

Zwei Tage nach ihrer Rückkehr meldet sich ihr Chef, er benötige dringend ihre Aufzeichnungen über die Stunden, die sie bei ihm gearbeitet habe. Die 7 Tage Aufzeichnungsfrist seien bereits vorüber, er, der Chef, wolle kein Bußgeld kassieren, wenn er wegen des Mindestlohngesetzes kontrolliert werde. Die Studentin liefert ihre Daten. Der Chef trägt sie ein. Unter welchem Datum, bleibt sein Geheimnis. Des drohenden Bußgelds wegen. In gleicher Weise verfährt der Unternehmer bei der Dokumentation aller Arbeitszeiten seiner festen Angestellten und der übrigen Aushilfen. So rechtzeitig wie möglich, so richtig und vollständig wie nötig und selbstverständlich in voller Übereinstimmung mit dem Arbeitszeitgesetz und seinen zahlreichen Beschäftigungsverboten. Würde diese Übereinstimmung fehlen, lieferte er sich der Ahndung als Ordnungswidrigkeit oder der Strafverfolgung aus. Denn die Einhaltung des Mindestlohns wird von etwa 1.600 Beschäftigen des Zolls kontrolliert.

Zufallsfunde zu Verstößen gegen das komplizierte Arbeitszeitrecht sind nicht ausgeschlossen. Obwohl sich nach unserer Rechtsordnung niemand selbst beschuldigen muss, ist es hier bisweilen unausweichlich. Schließlich darf man in der Dokumentation der Arbeitszeiten keine falschen Angaben machen. Wird der Inhalt unrichtig dokumentiert, ist dies ein Bußgeldtatbestand nach dem Mindestlohngesetz.

Dies ist ein harmloser, einfacher Fall. Schwieriger würde es, wenn die Studentin noch weitere Jobs hätte oder nur kurzfristig beschäftigt wäre. Oder beides: kurzfristig und nur geringfügig. Wer es genau wissen will, kann die häufigsten Spielarten von Minijobs in den 152 Seiten starken Richtlinien für die versicherungsrechtliche Beurteilung von geringfügigen Beschäftigungen (Geringfügigkeits-Richtlinien) vom 12. November 2014 nachlesen. Der Unternehmer wird den Text lesen oder durch einen Fachmann lesen lassen. Er muss auch dieses Regelwerk kennen. So, wie er zahllose andere Vorschriften beachten und einhalten, Prüfungen vornehmen und Dokumente erstellen muss. Tagtäglich.

Wie konnte es passieren, dass gerade 450- Euro- Jobs mit umfangreichen Dokumentations- und Aufbewahrungsvorschriften befrachtet werden, obwohl sie im Kern solche geringfügigen Beschäftigungen in der steuerlichen und sozialversicherungsrechtlichen Handhabung erleichtern sollten?

Wie konnte es passieren, dass für ganze Branchen[1]Dokumentations- und Aufbewahrungs- und Duldungspflichten postuliert werden konnten, rechtschaffen arbeitende Betriebe dem Generalverdacht erhöhter Anfälligkeit für Gesetzesverstöße auszusetzen, ihre Leistungskraft zu lähmen und Mogeleien und Tricksereien der unseriösen Konkurrenz Vorschub zu leisten? Wie konnte die Notwendigkeit entstehen, eine Mindestlohndokumentationspflichten-Verordnung zu erlassen, deren sperriger Name uns wie ein unumstößliches Monument der Unzulänglichkeiten des Gesetzteswerks um den Mindestlohn erscheinen muss?

Wie konnte das nach allen Bemühungen um mehr Transparenz und Bürokratieabbau geschehen? Wie konnte das alles geschehen, nachdem der Bund am 1. Juni 2006 das Gesetz zur Einrichtung eines Nationalen Normenkontrollrates (NKRG) verabschiedet hatte, der darüber wacht, dass die Folgen neuer Vorschriften unter Einschluss der Bürokratiekosten bereits im Gesetzgebungsverfahren transparent werden?

Vielleicht konnte das alles so geschehen, weil die Gesetzesfolgenabschätzung – bei allem Respekt – doch fern der Praxis erfolgt. Ein Beispiel: So heißt es in der Begründung des Mindestlohngesetzes am 2. April 2013 zu Kosten, die die Aufzeichnung der geleisteten Stunden mit Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit bei 450- Euro-Kräften sowie Mitarbeitern zahlreicher Branchen innerhalb von 7 Tagen nach sich ziehen: Es entstehe kein zusätzlicher Erfüllungsaufwand, da die geleistete Arbeit in der Regel ohnehin für die ordnungsgemäße Abwicklung der Arbeitsverhältnisse dokumentiert werden müsse. Auch Aufwand für die zweijährige Aufbewahrung wird ausdrücklich verneint. Der Normenkontrollrat billigte diese Darstellung. Die Praxis aber sieht anders aus. Sie ist viel komplexer und bedeutet für die Betriebe einen immerwährenden Spagat zwischen der Einhaltung aller gesetzlichen Vorgaben, dem praktischen Bedarf vor Ort und der Wirtschaftlichkeit des Betriebs.

Es drängt sich die Ahnung auf, unsere Abgeordneten könnten bereits den Blick für die betriebliche Wirklichkeit verloren haben, will man ihnen nicht unterstellen, diese zwar zu kennen, trotzdem aber Gesetze zu erlassen, die erkennbar kleinere Betriebe überfordern müssen und überfordern werden. Ein Seitenwechsel ist in der Politik mitunter eher verpönt. Sich einmal auf die Seite der Betriebe zu setzen, erscheint indes notwendiger denn je.

Im Januar 2015

[1] nämlich das Baugewerbe, das Gaststätten- und Beherbergungsgewerbe, Personenbeförderungs­gewerbe, das Speditions-, Transport- und damit verbundenen Logistikgewerbe, das Schaustellergewerbe, die Unternehmen der Forstwirtschaft, Gebäudereinigungsge­werbe, die Unternehmen, die sich am Auf- und Abbau von Messen und Ausstellungen beteiligen, und die Fleischwirtschaft

Zu viel des Guten

OLYMPUS DIGITAL CAMERAEin Gastgeber kann nur so gut sein, wie das, was er seinen Gästen gibt. An Kraft, an Zeit, an Inspiration. Manche haben mehr Kraft, die anderen mehr Zeit oder Einfallsreichtum. Manche weniger. Alle aber können von allem, was sie geben könnten, nur einen Teil einbringen: den Teil, der übrigbleibt. Sozusagen die Netto- Anteile, die nach Abzug aller Steuern und Sozialabgaben – im übertragenen Sinne – noch nicht vernichtet sind. Abzüglich der Nachtruhe, wenn man die Zeit allein betrachtet.

Einmal angenommen, alle Gastgeber hätten das gleiche Päckchen an Abgaben zu tragen: Dann bekäme der Gast zwar nur einen Bruchteil dessen, was der Gastgeber in der Theorie zu leisten imstande wäre; wir hätten aber Wettbewerbsgleichheit. Niemand stünde im Vergleich besser oder schlechter da. Weder die Gastgeber, noch nicht einmal die Gäste. Würd´s mit den Abgaben zu viel, wär´s ebenfalls eigentlich ein neutrales Geschäft. Der Gastgeber käme kaum noch dazu, seiner eigentlichen Bestimmung zu dienen; der Gast ginge allmählich leer aus. Kein Service, keine leckeren Gerichte, keine gepflegte Unterkunft. Ein bisschen düster, diese Vorstellung, oder?

Noch ist es nicht ganz so schlimm und doch schlimmer. Noch bleibt dem Gastgeber nach Erfüllung all seiner Dokumentations- Informations- und Meldepflichten, nach ordnungsgemäßer Steuererklärung, Bedienung der amtlichen Statistiken, nach Prüfung und Freigabe der eingehenden Rechnungen, der ordnungsgemäßen An- und Abmeldung seiner Angestellten sowie der Erledigung des Rechnungswesens ein Stück seiner Reserven an Kraft, an Zeit und Inspiration, die er ganz dem Gast widmen kann. Solange ihn nicht das schlechte Gewissen plagt, er könnte etwas übersehen haben, das Geld könnte für die Rückzahlung der Kredite nicht reichen, die Kunden könnten ausbleiben oder andere Sorgen ihn quälen. Je mehr Pflichten, umso eher besteht die Gefahr, säumig zu bleiben. Das geht schlägt auf´s Gemüt, zunächst zu Lasten der Inspiration. Es bleiben die Reste von Kraft und Zeit. Die drohen, angesichts fehlender Inspiration ebenfalls bald zu versiegen. Und dann bleiben die Kunden aus. Die Rückzahlung der Kredite scheitert, die Fehler häufen sich. Das Licht geht aus. Die Herberge bleibt kalt. Strom, Wasser und Heizung sind abgestellt.

Es ist nicht so schlimm und doch schlimmer, weil die Dokumentations- und Meldepflichten, all die alltäglichen Fallstricke den Gastgeber gefangen halten. Heute kommt die Personalnot hinzu. Dann noch die neuen Deklarationspflichten über Allergene bei der Bereitstellung von Speisen. Nun müssen auch noch die Stunden der Mitarbeiter kleinlich und mit kurzer Frist dokumentiert und der staatlichen Kontrolle präsentiert werden. So will es das neue Mindestlohngesetz. Das ist zu viel des Guten. Ein Gastgeber kann nur so gut sein, wie er seinen Gästen Kraft, Zeit und Inspiration geben kann.

Im Januar 2015

Beschäftigung

OLYMPUS DIGITAL CAMERAIch bin gut beschäftigt. Und das meine ich ernst. Zum einen habe ich viel zu tun. Zum anderen habe ich auch ein auskömmliches Leben. Ich verdiene gut, kann meine Familie ernähren und für mich bleibt auch noch etwas übrig. Doch nicht genug: Das Unternehmen hat einen guten Ruf. Meine Beschäftigung ist deshalb geachtet. Ich meine: gesellschaftlich anerkannt. Ich fühle mich wohl. Und das soll auch so bleiben. Und das wird auch so bleiben. Dafür sorge ich. Alle, die daran etwas ändern wollten, sind gnadenlos gescheitert. Zurzeit gibt es wieder Stress. Aufgaben erledigen, ist die neue Parole. Erledigen! Unglaublich. Wo sie uns doch so richtig gut beschäftigen. Wir sollen sie erledigen? Um Himmels Willen.

Diesmal ist´s richtig schwierig. Die Stimmung ist am Boden. Der Laden steht Kopf. Aber auch das geht vorbei. Hoffentlich. Denn ich bin gut beschäftigt.

Im Januar 2015

Übermorgen

Wenn morgen übermorgen wäre,
wäre heute
morgen vorgestern.

Heute Morgen wäre
übermorgen morgen.

Heute Mittag ebenfalls.
Und heute Abend auch.

Wenn morgen übermorgen wäre.

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Im Januar 2015

Vergütung

OLYMPUS DIGITAL CAMERAWofür werden wir bezahlt? Wissen wir´s? Für unsere Anwesenheit? Für unsere Bereitschaft etwas zu tun? Für unsere Bereitschaft, einmal alle Fünfe gerade sein zu lassen? Oder für unsere Anstrengungen? Für unser Bemühen? Für das, was wir im Rahmen unserer Möglichkeiten leisten, eine Aufgabe zu lösen? Ich weiß es nicht.

Ein Wachmann wird dafür bezahlt, dass nichts passiert. Am besten ohne sein Zutun. Durch blanke Anwesenheit. Ziel erreicht. Geld verdient.

Ein Feuerwehrmann ist in der Lage, Brände zu bekämpfen. Seine Kenntnisse und Fertigkeiten sind gefragt, wenn es brennt. Für den Fall ist er ausgebildet. Dafür wird er auch bezahlt. Wenn er dann einmal zum Einsatz kommt. Dazu kommt es aber selten. In aller Regel brennen weder Häuser noch Autos oder sonst was. Nur ausnahmsweise bequemen sie sich, den Feuerwehrmann einmal ganz zu fordern. Obwohl er immer bereit wäre, sich allen Forderungen zu stellen. In seiner Bereitschaft. Auf die der Löwenanteil seiner Vergütung entfällt. Betriebswirtschaftlich – pardon, davon verstehe ich nicht viel – dürften die Ökonomen von einer miserablen Investition sprechen. Geld für die Bereitschaft, alles zu geben, was Ausbildung, Körper und Geist vorhalten.

Mitwisser: Die, die Schmiere stehen, und andere Gehilfen der leichten und schwerern Kriminalität haben ihren Lohn nicht verdient. Wenn sie Glück haben, bekommen sie ihn aber. Auch ohne den Segen der Justiz. Wofür eigentlich? Sie arrondieren das Geschäftsfeld illegaler Machenschaften, schirmen Vermögensverschiebungen ab und sorgen dafür, dass jedwede Handlung oder Unterlassung, die unsere Gesellschaft unter Strafandrohung nicht zu dulden gewillt ist, doch geschehen kann. Das kann sich lohnen. Für die kleinen, fiesen Helferlein.

Ein Beamter. Ja, der erhält ja gar keine Vergütung. Der erhält eine Alimentation. Eigentlich ist er deshalb außen vor, wenn es um die Frage geht, wofür wir bezahlt werden. Ein Beamter hat das, was er bekommt, verdient. Punkt. Das steht nämlich im Gesetz. In den Gehaltsvorschriften, fein sortiert und tabelliert. Damit erübrigt sich die Frage nach Leistung und Gegenleistung im Einzelfall. Entscheidend ist das Amt. Er ist ja Beamter. Ein Teil des ansonsten seelenlosen Staates. Es sei ihm gegönnt. Sein Gehalt.

Wer gibt etwas für die bloße Anstrengung? Niemand. Trotzdem wird sie bisweilen bezahlt. Das fängt in der Schulzeit an. Für die bloße Anstrengung, für das stundenlage Lernen allein, geben viele Eltern – im Rahmen ihrer Möglichkeiten – ihrem mehr oder weniger wohl geratenen Nachwuchs Incentives, kleine und größere Belohnungen, die in Freizeit, Nützlichem, „Must haves“ und anderen reizvollen Dingen ausgezahlt werden. Anstrengung selbst lohnt sich auch hier nur ausnahmsweise. Die Quelle, aus der die Mittel sprudeln, öffnet sich nur mit einem unverhohlenen Blick auf Chancen, die solcher art geförderte Anstrengungen bieten. Die Chance, doch noch einen Abschluss zu schaffen, den stolzen Eltern zum Gefallen, denn sie sind ja in gerader Linie verwandt. Und Erziehungsverpflichtete. Dem Kind gereicht die Anstrengung ebenfalls zum Wohl. So ganz nebenbei.

Das Bemühen, seinen Aufgaben gerecht zu werden, ist heute eine der übelsten arbeitsrechtlichen Leistungsbeschreibungen, die sich Arbeitnehmer am Ende ihres Arbeitsverhältnisses einhandeln kann. Man kann es kurz machen: Für Bemühen erntet man allenfalls ein mildes Lächeln. Aber kein Geld. Weil bloßes Bemühen dem, der es vergüten sollte, keinen Ertrag liefert. Am Ende zählt der Erfolg. Bei allem Bemühen.

Wer zahlt dafür, dass wir im Rahmen unserer Möglichkeiten so viel leisten, wie wir können, um eine Aufgabe zu lösen? Nur der, der in uns die Hoffnung setzt, die Aufgabe zu lösen. Und nur so lange, wie er nicht durch Misserfolge eines Besseren belehrt wird. Wir leben in einer Welt der Ökonomie. Hier zählen Zahlen. Nichts anderes.

Wofür werden wir bezahlt? Wissen wir´s?

Im Januar 2015

Lösungseifer

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Vor Hiddensee 2014

Probleme vemehren sich rasant. Ihre Wachstumskurve zeigt steil nach oben. Eine Lösung gebiert zwei neue Probleme. Im Durchschnitt. Und sehr frei geschätzt. Die Saat unseres Lösungseifers geht auf. In jeder Minute schlüpft der Nachwuchs. Nur wer genau hinsieht, entdeckt sie anfangs überhaupt, die noch arg winzigen Erdenbürger. Aber wer sieht schon so genau hin? Lass die Kleinen doch erst einmal zu Kräften kommen, die harmlosen Würmchen, die ihre Unschuld just dann verlieren, wenn wir sie lösen. Die dann Kinder kriegen: ganz frische Probleme, dazu da, sich rasant zu vermehren.

Im Januar 2015

Was kommt

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Rokin Amsterdam 2014/15

Sie locken uns ins Geschäft. So einfach im Vorbeigehen. Werbliche Anlagen stellen uns in den Weg oder gewinnen unsere Aufmerksamkeit durch ihre Unscheinbarkeit. Manchmal stolpern wir drüber, manchmal suchen wir sie. Denn die Konkurrenz um unsere Gunst ist groß. Ist ein Betrieb erst einmal eingerichtet, muss er brummen. Umsätze müssen her. Und Renditen. Sonst geht er pleite. So einfach ist das. Mitnehmen was kommt, mag deshalb der denken, der noch ein paar Kunden vertragen oder noch ein paar Gäste beherbergen könnte. Was aber kommt, geht auch wieder. Kommt aber das, was geht, wieder?

Kommt das, was geht, nicht wieder, gibt es vielleicht ein Problem: Stimmte die Leistung nicht? War das Essen zu kalt, der Raum zu dunkel oder der Wein zu warm? Lag´s an der Küche oder beim Kellner? Oder ganz woanders? Wer einmal kommt und dann nicht wieder, weiß oft allein um die Gründe seines Missmuts. Er allein kennt sie in ihrer ganzen Dramatik der Versäumnisse und kann sie beim Namen nennen. Und er wird sich mitteilen müssen. Er muss seinem Ärger Luft machen. Er wird sie weitergeben, seine Erfahrungen und seine Enttäuschungen. Er wird über die falsche Fährte, auf die ihn ein Aushängeschild gelockt und über die falschen Erwartungen, berichten, die es in ihm geweckt hatte. In seinem Freundes- und Bekanntenkreis. Und sonst wo. Die schlechte Nachricht kriegt Kinder. Und pflanzt sich fort. Mitnehmen was kommt, hat ausgedient. Was kommt denn noch?

Im Januar 2015

Guter Service

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Zingst 2014

Guter Service ist selten. Er überrascht den Kunden. Er sorgt für eine angenehme Reise und bietet einen freundlichen Empfang in wohlgestalteter Atmosphäre. An ihn kann der Kunde seine Sorgen, Hoffnungen und Wünsche adressieren. Ganz diskret. Ihm kann er sich voll anvertrauen.  Und wird nicht enttäuscht. Niemals.

Guter Service ist eine Überraschung, ein Erlebnis und eine Bereicherung zugleich. Deshalb kostet er jederzeit die volle Kraft. Und er endet nie. Deshalb ist er so schwierig. Und so selten. Der gute Service.

Im Januar 2015

An der Kasse

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Amsterdam 2014

Das Band läuft eine Handbreit weiter. Dann hält es an. Der Mensch in dem kleinen Sitzkäfig hebt kuz seinen Kopf, sieht dem Kunden in die Augen und sagt „Guten Tag“ oder „Hallo“. Ein Augenaufschlag, mechanisch, rhythmisch, eingeübt und angepasst, tausendmal an diesem Morgen. Heute Nachmittag. Und morgen, den Tag danach, in der nächsten Woche, in den kommenden Monaten und Jahren. Wundersam fesselnde Routine, die den Menschen in ihren Bann zieht, ihn nicht mehr loslässt. Im Käfig der Moderne mit nächtlichem Freigang für die Gefangenen, um ein bisschen Würde tanken. Für den nächsten Tag.

Wir sehen die Probleme und kümmern uns drum. Geben dem Menschen die ganze Würde zurück. Die Schwächen unserer Welt sind allzu offenkundig. Der Mensch passt nicht ins System. Liefert zu viele Fehler, arbeitet unzuverlässig, fällt aus und stellt auch noch Ansprüche. Nein. So kann es nicht bleiben. Wir sind findig genug, Abhilfe zu schaffen. Und so gelingt es uns, diese launische Schwachstelle zu eliminieren. Kein Mensch an der Kasse mehr. Er kann jetzt ausspannen. Den ganzen Tag, die ganze Nacht. Jeden Tag, jede Woche, immer. Der Mensch hat jetzt frei, hat keine Arbeit mehr, nichts mehr, das ihn gefangen hält. Selbst Ansprüche stellen, will er nicht mehr. Weil er von der Aussichtslosigkeit weiß. Der Mensch von der Kasse ist jetzt vollkommen frei. Hat nichts mehr. Keine Pflichten. Kein Hab, kein Gut. Unserer Technik sei Dank. Sie dient dem Menschen, rettet seine Würde. Den mechanischen Augenaufschlag haben wir digitalisiert. Das Band läuft eine Handbreit weiter. Dann hält es an.

Im Januar 2015

Hingestreckt

Die Sonne schmeichelt uns in Seligkeit,
Brisen streicheln unsre Haut.
Das Rauschen deckt die Sorgen zu.

Wir liegen lange hingestreckt
am weißem Badestrand.

Ein kühler Schatten jagt die Wärme fort,
ein Luftzug lässt uns frieren.
Das Rauschen weckt die Sinne auf.

Wir lagen lange hingestreckt
am weißen Badestrand.

Der Alltag hat uns wieder.

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Piran 2007

 

 

 

 

 

Im Januar 2015

Blütezeiten

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Amsterdam 2014/15

Schon wieder einer. Der Einzelhandel zieht sich zurück. Die Innenstadt verliert nach und nach ihre hübschen Beißerchen. Zahnlücken wohin man schaut. Kein schöner Anblick. Mit Mühe widersetzt sich der verbleibende Rest der immer stärker drängenden Überlegung, ebenfalls den Schlüssel für immer umzudrehen. Die Wenigen kämpfen mitunter auf verlorenem Posten. Ihre Mitstreiter sind fort. Und mit ihnen die Passanten, die Kunden, die es ehemals in die Städte zog, weil sie hier das fanden, was nirgendwo sonst zu haben war: modische Kleidung, Hausrat, Spielzeug und eben alles, was das Herz begehrte. Heute finden Sie was sie suchen mühelos woanders. Was sollen sie noch in der Innenstadt, dem Ort, an dem sich Hoffnungslosigkeit breit macht? Die Hoffnungslosigkeit des Einzelhandels an diesen Orten. Die Hoffnungslosigkeit der Vermieter, die in alten Erinnerungen schwelgen. Die Hoffnungslosigkeit der Fantasielosen, die nicht sehen, dass die Innenstadt vor einer neuen Blüte steht. Einer Blüte, deren Farbe uns noch verborgen ist.

Im Januar 2015

Gut genug

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Amsterdam 2014/15

Es ist ganz einfach. Oder auch nicht. Wenn es einmal nicht ganz einfach ist, muss man genau hinsehen, wo. An manchen Stellen schadet es nämlich nicht, wenn etwas ein bisschen komplizierter gerät; an anderen schon. Machen Sie zuhause, was Sie wollen. So umständlich, wie es Ihre Angehörigen ertragen und es Ihre Zeit zulässt. Schließlich müssen Sie es selbst ausbaden. Sie sind die letzte Instanz. Auch als Parlamentarier, wenn Sie Ihre privaten Dinge erledigen. Dann ist es unschädlich.

Recht für alle zu schaffen aber verlangt mehr. Klare Gedanken. Klare Worte. Einfache Regeln für die Praxis. Gut genug für die massenhafte Umsetzung. Der Bürger wird es Ihnen danken. Als Steuerzahler, als Arbeitnehmer, als Autofahrer, als Hobbygärtner, als Golfspieler oder als Urlauber. Oder einfach nur als Mensch wie Sie und ich. Ganz einfach.

Im Januar 2015

Ablenkung

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Königin Wilhelmina, Amsterdam 2014/15

Unser Fabelwesen lebt. Das Bürokratiemonster macht uns Angst, verfolgt uns, raubt uns den Schlaf. Es ist allgegenwärtig und nicht auszurotten. Weder in der Europäischen Union, noch beim Bund, beim Land, in den Kreisen, den Städten und Gemeinden oder bei anderen Stellen, die öffentliche Aufgaben wahrnehmen. Unsere Waffen versagen kläglich, wollen wir es zur Strecke bringen. Denn es hat weder Gestalt noch Gesicht oder gar ein Rückgrat, das wir brechen könnten. Es lässt sich weder orten, noch in Bilder fassen. Jeder Versuch, sich ihm zu nähern, scheitert. Es ist einfach unfassbar, dieses Ungeheuer.

Es ist so unbeschreiblich unfassbar, dass wir uns ziellos an ihm austoben können. Wir können nichts falsch machen. Wir treffen immer den Richtigen und genießen nebenbei die Sympathien derer, die ebenfalls mit der Umsetzung ihrer Aufgaben hadern. Schaden kann´s nicht. Über den Nutzen brauchen wir uns deshalb keine Gedanken machen. Ein sperriges Bürokratiemonster eignet sich als metaphorische Schlagzeile über Drangsalierungen unseres Gemeinwesens jedweder Art. Es ist immer da und immer nah, um unserem Ärger Luft zu machen. Es lenkt ab von den Verantwortlichen. Und es wehrt sich nicht. Kann sich gar nicht wehren. Monster sind harmlos, sind bloße Fabelwesen unserer Phantasie.

Im Januar 2015

Kleine Signale

Sie beflügeln den Ort und den Augenblick. Kleine Signale. Absichtsfrei. Unbeabsichtigt geäußert. Wahrgenommen als Zeichen fremder Ahnung, dass etwas nicht ganz richtig gewesen sein könnte. Zuversicht keimt auf, scheut sich noch vor Übertreibung. Abwarten, was kommt. Optimismus bleibt vor der Tür. Ist das Schlimmste nun vorüber? Und morgen? Was ist morgen? Warten auf morgen. Skepsis bleibt. Und behält nicht selten recht.

Im Dezember 2014

Zeit der guten Wünsche

Es ist die Zeit der guten Wünsche. Die Weihnachtszeit. In diesen Tagen trudeln haufenweise Karten und Briefe ein. Die meisten von ihnen sind persönlich unterschrieben. Von Menschen, die sich bei mir bedanken und mir viel Gutes wünschen. Ich bin gerührt. Viele Namen vieler Leute, die alle an mich gedacht haben. Manche sind mir unbekannt. Vielleicht sind sie mir nur entfallen. Vielleicht erinnere ich mich nur nicht an die gute Zusammenarbeit des jetzt ausklingenden Jahres, für die ich Dank ernte. Sie aber haben mich nicht vergessen. Chapeau!

Ich erinnere mich nicht an die Berater aus den vielen Büros mit den klangvollen Namen, deren besondere Wertschätzung ich heute genießen darf. Ich erinnere mich nicht. Und doch muss es ja einen guten Grund für die guten Wünsche geben. Vielleicht habe ich ja meine Liebenswürdigkeit nur maßlos unterschätzt, habe gar nicht erkannt, wie viel Gutes ich geleistet habe? Für andere. Für alle, die meine Großzügigkeit genießen durften und mir heute Dank sagen und Glückwünsche für das neue Jahr übermitteln wollen. Ich wachse in meiner Hochachtung. Vor mir selbst. Und bin sprachlos. In der Zeit der guten Wünsche.

Im Dezember 2014

Mal sehen

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Mal sehen.

Was kommt. Vielleicht ist es schon da. Was kommt.

Wir sehen. Was war. Wir haben´s gesehen. Was war.

Wir sehen. Was kommt. Wir sehen doch klar. Was war.

Mal sehen.

Im Dezember 2014

 

Regen von allen Seiten

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Bahnstadt in Heidelberg 2014

Es regnet nicht. So richtig. Von drinnen betrachtet. Vielleicht ein bisschen Nieselregen. Mehr nicht. Draußen ist es mehr, nicht weniger. Regen von allen Seiten. Nicht nur von oben. Von allen Seiten kriecht das Wasser aus der Luft in meine Kleidung. Von vorne, von hinten  und sogar von unten. Obwohl der November längst vorbei ist. Der November mit seiner wohligen Wärme. In den Wohnstuben. Bei Kerzenlicht und Feuer im Kamin. Doch es ist nicht mehr November. Weder draußen, noch drinnen, noch sonstwo. Es regnet. So richtig.

Im Dezember 2014

Schritt nach draußen

OLYMPUS DIGITAL CAMERAGestern wollte ich wissen, wie das Wetter vor meiner Haustür ist. www.wetter.de gab mir bereitwillig Auskunft. Ich nahm also den Schal und den mit Daunen gefütterten Anorak und begab mich ohne Regenschirm nach draußen, um in die Stadt zu gehen. Einkäufe standen an.

Wieder daheim, wusste ich, dass ich die richtige Kleidung gewählt und zu recht auf einen Schirm verzichtet hatte. Ich kam, ohne dass ich hätte frieren müssen, heim. Auch war es mir nicht auf´s Dach geregnet. Aber: was soll das jetzt?

Meine Wetterinformation stammte aus dem Internet. Da wusste schon jemand vor mir, welche Witterung ich draußen antreffen würde. Und er war bereit, diese Information mit mir zu teilen. Dieser große Unbekannte im Internet. Eingentlich sollte das kein Problem sein. Und doch beschleicht mich ein gewisses Unbehagen.

Noch einmal: Ich wollte wissen, ob es draußen kalt oder warm, trocken oder eher feucht war. Nichts hinderte mich, dies höchstpersönlich festzustellen, indem ich mich zur Haustür bewegte, deren Schwelle überschritt, mich nach draußen stellte und mit allen 5 Sinnen – meinetwegen unter zusätzlichem Einsatz meines sechsten Sinnes – den aktuellen Zustand der Witterung vor meiner Haustür zu erfahren. Ich hätte gefroren oder mir wäre warm geworden, ich hätte Regen auf meiner Haut gespürt, feuchte oder trockene Luft geatmet. Unmittelbar. Doch ich befragte das große Netz. Einfach so. Und es hatte Recht, erwies sich als absolut zuverlässiger Informant, als unfehlbar fast.

Noch einmal: Da lagen irgendwo im Nirwana des unbegreiflichen Netzes Daten über die Temperatur, die Luftfeuchtigkeit und die Bewegung des Wetters vor meiner Haustür. Irgendjemand hatte sie dort abgelegt – oder vielleicht einfach nur vergesen? Ich nehme an: abgelegt, bewusst geliefert. Und dann gab es noch diese Algorithmen, die diese brandfrischen Informationen meiner Anfrage zugeordnet und in einer für mich auf dem Bildschirm meines Computers lesbaren Form abrufbar gemacht hatten. Und all das Drumherum.

Mechanisch getippte Buchstaben, umgewandelt in eine Sprache, die der Computer versteht. Zerhackt und versandfertig verpackt in digitale Päckchen, gepusht und geroutet über rätselhafte Weichen, decodiert und umgeleitet. Meine Postleitzahl im Eingabefeld von www.wetter.de war so richtig eingeschlagen, hatte Digits in Bewegung versetzt (wie auch immer). Das System lieferte die Information: Zerhackt, versandfertig verpackt in digitale Packchen pushte sie diese über den Äther in mein Wohnzimmer. Mein System leistete seinen Teil. Decodieren, routen und ab auf den Bildschirm. Aber bitte lesbar. Für mich. Der eigentlich auch hätte einen Schritt nach draußen unternehmen können.

Im November 2014

Montag

 

 

 

 

 

Abend ist es schon.
Hinter dem Glück der letzten Tage
steigt der Montag auf.

Wer weiß, was mich erwartet,
was mich dann fordern wird,
eine harte Woche lang.

Im Schlaf erwachen Sorgen-Geister,
sie quälen und sie wecken mich
und zerplatzen dann zu Nichts.

Der Wecker meldet sich wie einbestellt,
die letzten Träume flüchten.
Zerschlagen wanke ich ins Bad.

Das Wasser spült die Seele frei.
Der Geist beginnt zu leben.
Ideen warten auf den Tag.

Mechanisch fängt der Montag an,
eingespielt in vielen Jahren
und endet abends dann.

Im November 2014

 

Regio-Call

Der Regio-Call ist draußen. Jetzt beginnt das Wettbewerbsverfahren. Jetzt ist klar, welche Vorhaben Aussicht auf den Zuschlag erhalten können. Jetzt beginnt der letzte Teil des ersten Schritts zum Erfolg. Jetzt werden die Papiere erstellt, die Wettbewerbsbeiträge eingereicht. Der Beste soll die Mittel bekommen. Auf ihn wartet ein reicher Geldsegen. Es lohnt sich teilzunehmen, denn die Gewinnchance ist hoch. Für alle, die gut vorbereitet sind, die sich früh drum gekümmert haben. Allein und mit all denjenigen, die entscheiden dürfen, was für die Region wichtig und richtig ist und die bereit sind, eine Entscheidung zu treffen, einen Konsens zu finden, die sich ein sicheres Urteil darüber zutrauen. Worauf auch immer dieses Urteil sich gründen mag.

Viele Millionen sind im Spiel. Und die wollen gut verplant sein. Was macht man mit so viel Geld? Jeder gemeine Stadtkämmerer könnte es aus dem Stand heraus verbauen, es in die Löcher der Straßen zu stopfen. Aber das wäre zu banal. Finanziert wird schließlich nicht der Bedarf. Das wäre regelwidrig. Ziel solcher Fördergelder ist es gerade nicht, die Substanz zu retten. Wir befassen uns mit der Zukunft. Nicht mit der Lösung der Probleme unserer Zeit.

Wer so viel Gutes tut, will nicht namenlos in Untiefen kommunaler Haushaltslöcher versinken. Er will Leuchttürme für die Region. Und vielleicht auch ein bisschen für sich. Als kleinen Anreiz sozusagen. Orientierungsmarken für den Blick in eine glückliche Zukunft sind gefragt. Politische Wohlfühlatmosphäre, wenigstens die, muss dabei herauskommen. Wenn wir schon so viel Geld einsetzen.

Dabei fällt es immer schwerer, den Segen an richtiger Stelle zu spenden. Etwa dort, wo die Wähler in entscheidend großer Zahl zuhause sind. Dort, wo die Gelder Wirkung zeigen. Auch politisch. Bei der nächsten Wahl. Das Wettbewerbsverfahren wirft einen da schon ein ganz schönes Stück zurück. Wenn vor allen Dingen die gute Idee und Vorhaben zählen, die den größten Erfolg für die Region versprechen und zudem nachahmenswert erscheinen, dann fällt es nicht mehr so leicht, die Mittel in politisch bedeutsamen, zugleich aber entwicklungsmüden Regionen zu platzieren. Das sollte für uns aber kein ernstes Problem sein. Für uns sind diese Herausforderungen nicht neu. Und wir haben sie noch immer gemeistert.

Wir sind großzügig. Das spüren die Regionen. Das spüren die Wähler. Und wir gehen verantwortungsvoll mit den Geldern um. Das zeigt schon das aufwendige Verfahren, dem wir uns nicht stellen würden, wollten wir unsere Millionen nach Gutsherrenart auskehren. Unsere Millionen. Ganz von oben. Von der Europäischen Union. Es ist also noch etwas da. Vom Geld der Wähler. Das sie abgeliefert haben. Bei der Union.

Sie  sollten dankbar sein.

Im November 2014

Eklatante Mängel

OLYMPUS DIGITAL CAMERADas Paradies hatte eine vollbiologische Kläranlage. Alle Wesen arbeiteten mit. Oben rein, unten raus. Jede Art, jede Gattung, vom Saurier bis zum Einzeller: Die Tiere und Pflanzen fanden sogar in Hinterlassenschaften anderer, was sie brauchen konnten. Bis auch der letzte Rest verdaut war. Ein tolles System. Aber: Besteht das Paradies auch sonst den Praxistest?

Schon eine kleine Überlegung offenbart eklatante Mängel. Genau betrachtet, war das Paradies gar nicht so paradiesisch, wie man gemeinhin annimmt. Ja, alles lebte: Pflanzen, Tiere waren nach Gattung und Art noch vollständig vorhanden. Wärme, Wasser und Licht gab es zuhauf. Doch wenn Adam nur einmal Heißhunger auf ein saftiges Rindersteak verspürt haben sollte, so musste sich sich die ganze Mangelhaftigkeit des paradiesischen Systems offenbaren. Es versagte in diesem Fall komplett.

Zwar gab es Tiere in Hülle und Gülle; was fehlte, war ein Schlachthof. Nun braucht man, das sei zugestanden, für ein Steak keinen ganzen Schlachthof, Adam hatte aber noch nicht einmal ein Messer, mit dem er das bisschen Steak aus einem der Rinder hätte herausschneiden können. Eine blutige Sache, ein zweifelhaftes Vergnügen für Adam und das Rind und gleichzeitig ein bisschen sehr englisch, weil es weder Grill noch Feuer gab. Fazit: Kein Steak heute. Und auch morgen nicht. Nie. In alle Ewigkeit kein Steak. Und das bei ewigem Leben. Im Paradies.

Und dann dieser ewige Musikgenuss, diese unaufhörlich verzaubenden Wohlklänge des Paradieses. Kein Laubbläser und keine Kettensäge, kein schräger Flötenton, der sich dieser melodischen Harmonie widersetzte. Ein Abschaltknopf fehlte. Ich bin sicher: Dies war die Geburtsstunde der Langeweile, dieses labilen Geisteszustandes, der erst in törichtem Tun ein neues Gleichgewicht findet. Heute verwundert es nicht, dass die Schlange leichtes Spiel hatte: Zwei Menschen, zu ewigem Leben bestimmt, aber zu Tode gelangweilt, verwöhnt bis zum Umfallen, aber auf alle Zeiten nicht in der Lage, sich nur ein einfaches Steak zu braten. Das konnte nicht gut gehen. Und tatsächlich: Adam und Eva kosteten vom Baum der Erkenntnis.

Die Erkenntnis haben wir mit dem Sündenfall nicht erreicht. Wir haben gelernt, Laubbläser und Kettensägen eine Stimme zu geben. Wir unterhalten Schlachthöfe. Wir haben unsere eigenen, fast vollbiologischen, Kläranlagen. Wir schießen Satelliten ins All. Doch nach der Erkenntnis der Früchte des Baumes, von dem Adam und Eva damals kosteten, stochern wir noch immer vergebens: Dem Sinn des Lebens. Ein Leben lang. Aber nicht länger.

Im November 2014

Ein Glücksspiel

OLYMPUS DIGITAL CAMERASpielhallen zu betreiben, gleicht einem Glücksspiel. Dem Glücklichen winkt ein Gewinn. Wer kein Glück hat, verliert sein Geld, sein Vermögen, seine Existenzgrundlage und vielleicht seinen Ruf. Wenn es schlecht für ihn läuft. Allem kaufmännischen Geschick zum Trotz. Denn in Spielhallen zu investieren, ist ein Wagnis mit ungewissem Ausgang: Für sie gibt es keine Bauartzulassung, kein technisches Regelwerk, das ihnen Bestandssicherheit gäbe. Für sie gibt nur eine Erlaubnis (§ 33 i Abs. 1 GewO). Diese Erlaubnis aber ist kaum mehr als das „Grüne Licht“ einer Ampel, stets auf dem Sprung, seine Farbe zu wechseln um dann endgültig auf „Rot“ zu schalten. Nicht strengen Algorithmen folgend, als vielmehr der Beliebigkeit, mit der wir unser Gemeinwesen über Gesetze und Verfügungen regeln. Das zeigt die derzeitige Diskussion um ein Vergnügungsstättenkonzept für die Stadt Siegen.

Wer beispielsweise 2010 in Siegen in eine Spielhalle investieren wollte, konnte dies an geeigneter Stelle in geeigneter Größe mit Erlaubnis der Stadt tun. Wollte er mehr als 12 Spielgeräte aufstellen, erhielt er eine Mehrfachkonzession, für zum Beispiel für 4 mal 12 Geräte, die er in seiner Halle aufstellen durfte. Er baute die Halle oder schloss Mietverträge über Räume, in denen er das Automaten-Glücksspiel anbieten konnte. Das war ein gewöhnlicher Gewerbebetrieb mit einem Planungshorizont von – sagen wir – 10 Jahren. Mit einer Finanzplanung bis 2020. Mit Miet- und Pachtverträgen gleicher Laufzeit. Mit Kooperationspartnern, die bereit waren, diesen Weg mitzugehen.

Wir wissen heute: Die Pläne könnten scheitern. Am 1. Dezember 2017 werden wir sehen, was von dem Konzept übrig geblieben sein wird, ob der Unternehmer Glück haben oder ob er zu den Unglücklichen zählen wird, die an falscher Stelle investiert und Vermögen verloren haben.  Nach dem 30. November 2017 wird eine neue Erlaubnis nach § 16 des Gesetzes zur Ausführung des Glücksspielstaatsvertrages (NRW, 13. November 2012) i.V. mit § 24 Abs. 1 Erster GlüÄndStV fällig. Dann enden Übergangsvorschriften für Betriebe, die bis zum 28. Oktober 2011 eine gewerberechtliche Erlaubnis für den Betrieb einer Spielhalle hatten.

Bis zum Ende der Übergangsfrist durften und dürfen solche Betriebe ohne Rücksicht auf die neuen Abstandsvorschriften des Staatsvertrages weiter arbeiten. Ab 1. Dezember 2017 aber gelten auch für sie die neuen Bestimmungen. Dann gibt es für jede Spielstätte nur noch eine Konzession für bis zu 12 Spielgeräte (§ 3 Abs. 2 S. 1 SpielV). Die bisher üblichen Mehrfachkonzessionen gibt es dann nicht mehr. Wer mehr als 12 Geräte aufstellen will, muss jeweils einen Abstand von 350 Metern zur nächsten Spielstätte einhalten.

Betriebe, die heute in einer Spielhalle auf der Grundlage von Mehrfachkonzessionen beispielsweise 48 Geldspielgeräte aufgestellt haben, müssen dann 36 Geräte abbauen. Übrig bleiben 12 Geräte und eine in anderer Weise kaum noch anderweitig nutzbare Hallenfläche. Die Einnahmemöglichkeiten reduzieren sich rechnerisch auf ein Viertel der bisherigen Umsätze bei gleichen Fixkosten. Kaum denkbare Alternative wäre die Investition in vier neue Spielstätten unter Aufgabe der einen großen: Jede einzelne wäre aufgrund der erforderlichen Investitionen, der höheren Personalkosten bei gesetzlich gedeckelten Einnahmemöglichkeiten pro Spielgerät deutlich weniger wirtschaftlich, womöglich sogar völlig unrentabel.

Selbst wenn die Wirtschaftlichkeitsschwelle allen Annahmen zum Trotz doch noch erreicht werden könnte, wäre eine solche Alternative an den Siegener Standorten wohl von vornherein ausgeschlossen. Denn die jetzt im Vergnügungsstättenkonzept präsentierten möglichen Ansiedlungsflächen sind zu klein, als dass sie den Betrieb mehrerer Spielhallen räumlich unter Einhaltung einer Distanz von jeweils 350 Metern ermöglichen würden. So verschärft die geplante Siegener Regelung die Lage der Spielhallenunternehmer noch einmal.

Es ist der voerst letzte Schritt einer Reihe von Restriktionen, denen sich die legal arbeitenden Gewerbetreibenden im Glücksspielsektor stellen müssen. Einen „kräftigen Schluck aus der Pulle“ nahm die Stadt Siegen, als sie durch Ratsbeschluss vom 11. Dezember 2013 die Vergnügungssteuer auf 20 Prozent auf die Einspielergebnisse anhob. Mit neuen Vorschriften über die in zweijährigem Turnus anfallende gutachtliche Prüfung der Geldspielgeräte und die neue Nachweispflicht, wonach der Aufsteller und Beschäftige sich einer Unterrichtung über rechtliche Grundlagen des Betriebs, insbesondere aus der Sicht des Jugend- und Spielerschutzes, unterzogen haben müssen (§ 10 a SpielV), ist das Geschäft aufwendiger geworden. Dabei lässt die Deckelung des für den Aufsteller höchstmöglichen Spielergebnisses pro Spielgerät auf 60 Euro pro Spielstunde (§ 13 Abs 1 Ziff. 4 SpielV) keinen Spielraum, die Einnahmen an anderer Stelle zu erhöhen. Viele andere gewerbliche Tätigkeiten sind im Zusammenhang mit einer Spielhalle verboten, so dass Umsatzverlagerungen in der Spielhalle auf andere Angebote kaum in Betracht kommen.

Die tatsächliche Rentabilität weicht so auffällig von der Rentabilitätsvorschau zu Beginn des Vorhabens im Jahre 2010 ab. Deshalb liegt es auf der Hand, dass Altbetriebe mit dem Auslaufen der Übergangsfrist die ausnahmsweise, wenn auch befristete, Verlängerung von Mehrfachkonzessionen bis zur Amortisation ihrer Investitionen beantragen werden. Die Abstandsregelung ist eine „Soll- Bestimmung“. In begründeten Ausnahmefällen kann die Erlaubnisbehörde davon abweichen (§ 29 Abs. 4 S. 4 Erster GlüÄndStV).

In Siegen liefert das neue Vergnügungsstättenkonzept geradezu eine Steilvorlage für den Ausnahmetatbestand, indem es durch den geringen Größenzuschnitt der ausgewiesenen Standorte die Zahl der Spielhallen im Wesentlichen auf den Spielhallenbestand beschränkt. Der Bestand wird angesichts der 350- Meter Abstandsregelung nach dem 30. November 2017 aber selbst keinen Bestand haben. Wenn dann die Konzessionen neu beantragt werden, können nicht alle Betriebe eine neue Erlaubnis erhalten. Wir dürfen gespannt darauf sein, zu wessen Gunsten die Entscheidung der Erlaubnisbehörde ausfallen wird, wenn zwei zu nah benachbarte Betriebe ihre Anträge auf Neukonzessionierung stellen werden. Gilt dann das Windhundprinzip? Oder wie anders will die Erlaunisbehörde einen der Anträge ablehnen? Es bleibt spannend. Beim Glücksspiel mit den Spielhallen.

 Einschlägige Rechtsnormen für Spielhallen:

  • 33 c GewO – Spielgeräte mit Gewinnmöglichkeit
  • 33 f GewO – Ermächtigung zum Erlaß von Durchführungsvorschriften
  • 33 i GewO – Spielhallen und ähnliche Unternehmen
  • Erster Staatsvertrag zur Änderung des Staatsvertrages zum Glücksspielwesen in Deutschland (Erster Glücksspieländerungsstaatsvertrag – Erster GlüÄndStV) (15. November 2011).
  • Gesetz zur Ausführung des Glücksspielstaatsvertrages (NRW, 13. November 2012)
  • Satzung über die Erhebung von Vergnügungssteuer in der Stadt Siegen – Vergnügungssteuersatzung – (Ratsbeschluss vom 11. Dezember 2013).
  • Satzung über die Erhebung von Vergnügungssteuer in der Stadt Siegen vom 11. Dezember 2013
  • Verordnung über Spielgeräte und andere Spiele mit Gewinnmöglichkeit (Spielverordnung – SpielV (Spielverordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. Januar 2006 (BGBl. I S. 280), die durch Artikel 5 der Verordnung vom 4. November 2014 (BGBl. I S. 1678) geändert worden ist“. (Anm.: Grundlage ist § 33 f Abs. 1GewO)

Im November 2014

Sie ist geknackt

OLYMPUS DIGITAL CAMERASie ist geknackt. Meine Bankverbindung ist tot. Sie musste sich nach langem Kampf am Ende doch ergeben. Die Bank hatte eine Verbindung. Sie hat sie nicht mehr. Konnte sie nicht halten. Allem Widerstand zum Trotz. Persönlich hatte ich vorgesprochen.

Was wie eine leichte Übung schien, entpuppte sich als komplizierter Akt. Ich hatte einen Berg von Unterlagen zur Kenntnis nehmen und Formulare ausfüllen müssen. Wohl wegen der besonderen Bedeutung und Schwere meines so schlichten wie unbequemen Anliegens.

Meine Hoffnung auf einen kurzen Prozess war blanke Illusion. Erst mein Anruf brach die zum Tode verdammte Verbindung auf. Stück für Stück. Ein Steinbruch stand Pate. Erst verschwand das Depot. Dann das Girokonto. Und dann ergaben sich die kleinen Restkonten in einer mir im Gesamtprozess schleierhaften Logik der Geschehensabläufe.

Verschämt trudelte geraume Zeit nach dem Vollzug per Post eine Nachricht über die Depotauflösung ein. Das Girokonto verschwand. Online war es einfach nicht mehr da. Kommentarlos. Und dann gab es noch den schäbigen Rest. Zwei winzig kleine Beträge. Wohin damit? Es dauerte nur ein paar Tage. Dann waren auch sie verschwunden. Jedenfalls für mich. Mein Kontozugriff scheiterte am Tage X und sollte nie mehr wiederbelebt werden. Ohne Kommentar.

Noch fehlt mir der schriftliche Nachweis, quasi das amtliche Dokument, dass nichts mehr ist, wo früher eine mir teure Bankverbindung war. Ich bin ja geduldig. Noch sind seit Äußerung meines wohl unanständigen Begehrens kaum mehr als 6 Wochen vergangen. Eines aber zählt: Meine Bankverbindung ist geknackt, auch wenn dies noch nicht amtlich ist.

Im November 2014

Open-Air im Siegerland

OLYMPUS DIGITAL CAMERAKeine 10 Meter entfernt. Die kurze Böschung hinunter und dann auf der Ebene: Dort liegt der Spielplatz des Feierabendvergnügens. Mit Zwei- und Viertaktern. Hochtouriger Gesang folgt dumpfem Grollen. Dazwischen Menschenstimmen. Open-Air- Musik der ganz besonderen Art. Wir sind im Siegerland. Eine ganze Großfamilie sägt, bohrt und hämmert sich durch ihre Freizeit. Sichtbar, vor allem aber hörbar.

Diese melodische Welt auf- und abschwellenden Gekreischs der Sägen, hölzerner Hammerschläge und brummender Mäher zählt hier als Genussmittel. Wir befinden uns in einem Familienkonzert. Es gibt keinen schrägen Ton, jeder einzelne tut gut. Auf Zuruf arbeitet hier ein eingespieltes Orchester. Gender-Fragen? Gelöst. Jeder darf mitmachen. Er, sie, die Töchter, die Schwiegersöhne und deren verheißungsvoller Nachwuchs gleichermaßen.

Nachhaltiges Wirtschaften? Selbstverständlich. Ausschließlich natürliche Rohstoffe aus heimischen Haubergen werden hier verarbeitet. Ein Generationenprojekt besonderer Art. In direkter Nachbarschaft. Respekt. Wir sitzen in der ersten Reihe. Ein Privileg. Ein ganz besonderes Privileg, das wir hier genießen können. Denn die Vorstellung wird wiederholt. Schon seit mehr als 20 Jahren. Mit höchster Zuverlässigkeit. Allenfalls unterbrochen durch höhere Gewalt: heftigen Regen, Schnee oder Sturm. Aber ansonsten: Kein Grund zur Klage. Ausfälle gibt es so gut wie nie.

Gespielt wird natürlich, wenn die Zuschauertribüne gefüllt ist. Wenn jeder teilhaben kann, an der schöpferischen Kraft Siegerländer Konzertkunst: Am Feierabend. Jeden Freitag, Samstag und dann in der Woche, wenn es hell genug ist, das Spektakel hautnah von der eigenen Terasse aus zu erleben. Wenn es windstill ist, die Sonne langsam im Westen untergeht und uns den Rest ihrer wärmenden Strahlen in den Garten schickt. Wenn es so richtig schön ist, draußen. Dann gibt´s ein Konzert. Jedes Mal. Mit schöner Zuverlässigkeit.

Unsere Terrasse ist verwaist. Die Plätze in der ersten Reihe bleiben leer. Uns fehlt wohl der Sinn für so viel Kultur. Eindringlich werden wir dran erinnert. Selbst in der zweiten Reihe, zurück im Haus. Wir haben ein viel versprechendes Abonnement in der ersten Reihe. Unkündbar. Generationen übergreifend. Es geht doch nichts über eine friedliche Nachbarschaft. Und zuweilen auch nichts über eine leise.

Im November 2014

Wir sind so frei


OLYMPUS DIGITAL CAMERASind wir nicht alle ein bisschen frei? In gewissen Schranken, versteht sich. Haben wir nicht alle ein bisschen das Recht, unsere Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten? Ein kleines bisschen? Ja. Ein kleines bisschen. Wir sind so frei. Genau so. Tagsüber, wenn wir unser Leben erdienen.

Wir sind so frei, Variante 3 der Begrüßungsformel unserer Arbeitsanweisung zu verwenden. Wir hätten ja auch Variante 1 nehmen können. Oder jedes Mal eine andere. Wir sind so frei. Und leben.

Wir sind so frei, Haltung zu wahren. Allem Unsinn zum Trotz, der seinem Geiste entspringt. Wir könnten auch widersprechen. Wir sind so frei und außerdem gescheit genug, dies nicht zu tun. Wir sind so frei. Wir wollen leben.

Wir sind so frei, seine Meinung zu vertreten. Wir müssen es nicht.  Haben unsere eigenen Ansichten. Es ist unser eigener Wille. Wir wissen, was wir wollen. Wir sind so frei. Wir wollen leben.

Wir sind so frei zu schweigen, wenn Unrecht geschieht. Unser Aufschrei erstickt. Weil wir es wollen. Wir sind so frei. Wir wollen leben.

Freiheit, was ist das schon? Wenn wir doch leben wollen? Wenn wir doch alle ein bisschen frei sind?

Im November 2014

Noch eine Runde

Die Reihen sind belegt. Fahrzeug schmiegt sich an Fahrzeug. Volles Haus. Langsam lenke ich meinen Wagen geradeaus und dann nach links in den Hof. Zu den reservierten Plätzen. Und finde meine Ahnung bestätigt: Ein paar  Sport Utility Vehicles thronen erhaben auf verbotenem Grund. Fremde sind es. Zwischendrin bekannte Fabrikate und Kennzeichen. Keine Lücke. Kein Ausweichplatz. Ich fahre vorbei, biege nach links, vollende die Runde ums Gebäude. Ich starte zu einem neuen Anlauf, setzte ein Signal. Die Kisten stehen unbeweglich. Provokation und Anmaßung zugleich. Die Besitzer drinnen, für mich namenlos, aber doch bekannt. Sie höflich zu bitten, ist zwecklos. Sie anzuhalten, ist undenkbar. Sie gar nicht anzusprechen, ist das Mittel erster Wahl.

Zähneknirschend überlasse ich meinen Parkplatz einem anderen. Und weiß ich noch nicht mal wem. Denn nur die Reihe ist reserviert. Für uns, die ein paar mehr Rechte haben sollen. Für uns, die sich ja auch nicht lumpen lassen, ganzen Einsatz zu zeigen. Immer wachsam, immer bereit, dort, wo sie gebraucht werden. Gegen ein bisschen Geld und kleine Privilegien. Die uns andere streitig machen. Einfach so. Ich kreise weiter. Noch eine Runde. Die Uhr läuft. Um halb Neun beginnt mein Dienst. Später zu kommen, ist auch kein Problem. Die Uhr läuft, aber ich habe Zeit, Zeit genug, um meinen ganzen Protest herauszufahren. Immer rundherum. Immer lauernd. Auf eine Lücke. Hinten. Unbeeindruckt glotzen mich die Rücklichter der Falschparker an. In jeder Runde neu. Mit jedem Mal provokanter.

Ich habe Zeit, viel Zeit. Und ich fahre weiter, fahre mir einen Drehwurm ein. Mit der Zeit. Mit der Zeit, die ich habe. Mit meiner eigenen Zeit, die ich ganz dem Protest widme. Gegen den Regelverstoß. Gegen die Missachtung meines Privilegs. Gegen die Respektlosigkeit. Längst haben sich Lücken im nicht bevorzugten vorderen Bereich geöffnet. Längst sind sie wieder geschlossen. Ich aber fahre weiter. Halb Neun ist lange durch. Es ist nur eine Frage der Zeit. Dann wird sich etwas bewegen. Hinten. Auf meinem Parkplatz. Und wenn es Abend wird. So viel Zeit muss sein. Neun mal zweieinhalb Meter reserviert Fläche warten auf mich. Noch eine Runde.

Im November 2014

Zu Diensten

0203KleinKleinschmidt lag nun schon den dritten Tag zuhause. Grippe. Ehrliche Grippe. Mit Fieber, Gliederschmerzen und einem unbeschreiblichen Gefühl der Schlappheit, die so gar nicht weichen wollte. Den Arztbesuch hatte er hinter sich. Der Gelbe Schein lag im Personalbüro. Arbeitsunfähig für eine Woche. Das erste Mal seit Jahren.

Nicht im Betrieb zu sein, nicht da zu sein, und trotzdem Lohn zu bekommen. Das war ihm fremd. Das beunruhigte ihn. Wie es im Betrieb jetzt wohl lief? Wer an seiner Stelle Hand anlegen würde? Sein fiebernder Kopf ließ nur flüchtige Gedankenfetzen passieren. Wie er seinen Arbeitsplatz vorfinden würde. Nach einer ganzen Woche. Eine ganze Woche.

Die Gedanken quälten ihn anfangs nur ein wenig. Er war noch zu benommen. Als das Fieber sank und sich seine Lebensgeister zurückmeldeten, rief er im Betrieb an. Seinen Stellvertreter. Fehlanzeige. Das Telefon war nicht besetzt. Ein weiterer Versuch: nach einigen Rufen kam das Besetztzeichen und wollte nicht wieder weichen. So ging es auch die nächsten Male.

Kleinschmidt fühlte sich wieder fit. Er hätte jetzt arbeiten können. Ja, er hätte arbeiten müssen, so meinte er. Er fand es eher unanständig, noch zu Hause zu bleiben, um sich, wie sein Arzt sagte, richtig auszukurieren. Längst lief er wieder durch die Wohnung, saß mal hier, lag mal da. Langeweile in der höchsten Alarmstufe. Er riss sich zusammen, las ein Buch, räumte auf, schaffte Ordnung in seinem Arbeitszimmer und war nach der langen Woche pünktlich zurück. Zu Diensten. Zu dienen. Wem auch immer.

Im September 2014

Charcoal made in Germany

OLYMPUS DIGITAL CAMERARauch steigt auf, beißende Schwaden wandern ins Tal. In Walpersdorf verflüchtigen sich unter einem ziemlich dichten Erdmantel entflammbare Substanzen. Aus faserigem Holz wird kristalline Holzkohle für den Hausgebrauch. Oder vielleicht für den Export in die USA? Charcoal made in Germany. Exklusiv für die gehobene Grillkultur? Mir sind solche Exporte nicht bekannt. Und, da Unkenntnis frei macht und weder unseren Dummheiten noch unserer Fantasie Grenzen setzt, darf sich unsere Holzkohle ganz unbefangen auf eine lange Reise begeben: Von ihrer Geburtsstätte im Walpersdorfer Meiler über den Großen Teich nach Santa Barbara, California. Dort sitzt ein Importeur, der seiner gut betuchten Kundschaft gerne Außergewöhnliches beschert: Barbecue mal ohne „Heinz Ketchup“, dafür aber mit Original-Holzkohle aus dem Siegerländer Holzkohlenmeiler. Transatlantischer Genuss. Schön dass das geht. Ohne Einfuhrabgaben. Ohne rechtliche und technische Regelwerke. Viel Spaß mit Wageners Grillkohle aus Walpersdorf, kann man da nur sagen. Apropos TTIP: Eines Freihandelsabkommens bedarf diese Lieferung nicht. Es würde aber auch nicht schaden.

Im September 2014

Ruinöses Geschäft

Der Einzelhandel ist fort. Leere Mauern. Tote Auslagen. Unaufhaltsame Menschen. Wer hier war, ist schon wieder weg, zuhause oder anderswo. Die Schönheit alter Tage ist dahin. Verblichen ist der Glanz kleiner Verlockungen, die das Ersparte forderten und uns bereicherten. Aus und vorbei. Eigentum ohne Mieter. Selbst Ein-Euro-Läden bleiben fern.Verlassene Lokale, wo einst die Geschäfte florierten. Was tun?

Es wird nicht mehr wie früher. Verscheucht das Gespinst, das eine Renaissance goldener Zeiten verheißt. Einzelhandel braucht Anderes als solche Orte. Für die Großen sind die Räume zu klein, die Logistik zu schwierig und der Parkplatz zu weit. Oder zu klein. Oder beides. Kleine wittern eine unwiederbringliche Chance. Und scheitern. Ein billiger Raum ersetzt kein Geschäftskonzept. Und ein gutes Geschäftskonzept verträgt auch eine höhere Miete. In aller Regel. Und die Mitte? Fehlanzeige. Kein Interesse. Es gibt sie noch. Doch sie ist schon versorgt.

Die öden Räume glotzen uns weiter an. Ihre graue Miene verdüstert sich von Monat zu Monat. Sie zehren von ihrer Substanz und vom Vermögen der Eigentümer. Sie verspielen den Kredit ihrer einst attraktiven Lage. Sie zerstören sich selbst. Ein ruinöses Geschäft, dieser Einzelhandel. Wenn er fort ist.

Im September 2014

Auf Messers Schneide

0006KleinGestatten: Apfel, Sorte Boskop. Gebaut, wie Äpfel gebaut sind: Ein bisschen kurz geraten, ein bisschen rund. Manchmal sauer, manchmal süß. In jedem Fall aber in aller Munde. Aber dazu später.

Einige von uns sind so grün wie anderes Grünzeug. Andere haben mehliges Fleisch. Eine Vorstellung, die uns Bosköppe, so nennt sich unsere Familie, immer wieder erschaudern lässt. Wir haben immerhin rote Bäckchen und unter unserer rauen Schale steckt ein fester Kern mit Gehäuse. Ziemlich zentral. Das ist unser Herz, unsere Seele. Ja, wir haben auch ein Herz. Wie jedes andere Lebewesen. Und wir sind verletzlich. Auch wenn davon niemand etwas wissen will.

Auch wenn alle so tun, als wären wir Äpfel seelenloses Pflück- oder Fallobst von ebenso seelenlosen Bäumen irgendwo auf einer Wiese. So aber ist es nicht. Und das sollten Sie wissen, wenn Sie einmal wieder einen von uns prüfend in die Hand nehmen, mit nach Hause tragen und dann die harte, kalte Klinge ansetzen, um uns zu zerteilen. In guter Absicht, versteht sich, aber apfelunwürdig. Mörderisch für uns Äpfel, den wohl friedlichsten aller Früchte, die weder mit Stacheln, noch mit Dornen oder klebrigen Abwehrwaffen ausgestattet sind, nicht mehr als ein friedliches Dasein fristen und für ihre Nachkommenschaft sorgen wollen.

Wir sind offenkundig eine leichte Beute, ein gefundenes Fressen für jedermann (pardon!) der nicht bereit ist zu kämpfen, sich lieber an wehrlosen Schwächeren vergreift. Nun ja. So sind die Menschen eben. Und die Pferde (Nein, Pferde gehören nicht zu den Apfelproduzenten – ich erklär´s gerne an anderer Stelle). Und die Schweine. Und die Wespen und die niedlichen kleinen Würmer, die schon immer die Eigenschaft hatten, uns bei jeder Gelegenheit aufs Unangenehmste zu löchern. Alle scheinen es auf uns abgesehen zu haben. Auf uns, auf unsere Familien und unsere Nachkommen, sollte es sie angesichts dieser Umstände überhaupt noch geben. Nun, wir haben uns dran gewöhnen müssen, nur zum Verzehr auf die Welt zu kommen, unseren Lebenssaft frühzeitig zu verlieren, als Apfelsaft, in ganzen Apfelstücken oder in nagend kleinen Portiönchen bis zur Fäulnis abgezapft.

Am schlimmsten aber ist der Tod durch eine harte Klinge. Sie trifft uns mitten ins Herz, zerteilt unsere Seele in zwei Hälften, wenn wir nicht gar geviertelt werden, was oft genug geschieht. Wir könnten schreien, wenn wir eine Messerattacke auch nur erahnen, wenn kaltes Wasser über unsere Schale rinnt, eine Hand uns ergreift. Dann ist es so weit. Aber wir können ja nicht schreien. Noch nicht einmal das. Wir sind die perfekten Opfer. Das bisschen Schale, das wir entgegensetzen können: Sie fällt der scharfen Klinge zum Opfer. Unser Leben steht dann auf Messers Schneide, die sich tief in unser Fleisch frisst, es zerschneidet zu appetitlichen Häppchen für sorglose hungrige Gemüter.

Denkt mal drüber nach. Na dann, guten Appetit.

Im September 2014

Einer von uns

OLYMPUS DIGITAL CAMERAEine Norm. Was ist das schon? Normative Kräfte schaffen sie. Gesellschaftlich, rechtlich, technisch, bindend, unverbindlich oder mit dem Anspruch auf Einaltung. Normen verankern sich in unserer Wahrnehmung. Was normgerecht geschieht, verdient keine besondere Beachtung. Es ist geregelt. Davon droht keine Gefahr. Wer sich normgerecht verhält, wer sich in der Bandbreite unserer gesellschaftlichen und rechtlichen Normen verhält, dem schenken wir unser Vertrauen. Den lassen wir in Frieden. Den lassen wir unbeobachtet. Der ist einer von uns. An seinem Platz in unserer Gesellschaft.

Wer die Grenzen unserer gesellschaftlichen Normen berührt oder überschreitet, der verunsichert uns. Ihm schenken wir größere Aufmerksamkeit. Nur vorsichtshalber. Und um wieder Frieden zu finden, innere Entwarnung vor dem Unvertrauten. Aufmerksamkeit zieht Beachtung nach sich. Wer die Grenzen Normen erreicht, fordert unsere Wahrnehmung, unser Interesse. Später dann Anerkennung. Wir wollen unsere Ruhe. Deshalb strengen wir uns an. Deshalb beschäftigen wir uns mit dem Abweichler. Wir hören ihm zu. Bis wir ihn sicher verpackt haben. Wenn nötig, kaufen wir ihn ein. Unser Frieden ist es uns wert.

Und wer keine Ruhe gibt, den befördern wir. Aus unserer Gesellschaft. Aus unserem Kreis. Oder nach oben. Als einen von uns. Wir wollen unseren Frieden.

Im September 2014

Nicht wahr

OLYMPUS DIGITAL CAMERAWir sind eingeladen. Ins Theater. In eine der letzten Oasen für Geist und Seele. Hinter uns schließt sich die Tür. Wir fangen an zu träumen. I have a dream. Von ewigem Frieden. Von Menschlichkeit. Von Gewaltlosigkeit. Von gleichen Rechten für alle. Der Bürgerrechtler Martin Luther King lebt wieder auf. Auf der Bühne. Hinter verschlossenen Türen. Nur für uns. Als Dank für unsere Verdienste in der Welt draußen. In einer Welt, deren Gefüge jetzt auseinanderzubrechen droht. In der Welt, in der Kriege in Europa wieder denkbar und undenkbare Brutalität im Nahen Osten bittere Realität geworden ist. Wir sollen ein paar Stunden abschalten, uns ein paar Stunden zu Träumen verführen lassen. Träumen ist ja nicht verboten. Draußen schlachtet die Organisation „Islamischer Staat“ (ISIS) ab, was sich ihr in den Weg stellt. Der Westen fliegt Luftangriffe und liefert Waffen zum Töten. Zur Verteidigung. Wozu sonst? In Europa wird ein Staat zerrissen, zerstört sich selbst. Eine unheilvolle Schraube der Eskalation eines Konfliktes zwischen „Ost- und Westmächten“ begleitet das Szenario. Ebola rafft ganze Gesellschaften dahin.

Jan Vering fesselt derweil sein Theaterpublikum, entführt uns in die Zeit des Aufstands der Schwarzen in den USA, in die 50er- und 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Bewegende Momente, die niemanden unberührt lassen. Momente, die Massen mobilisiert und so manchen Kopf frei gemacht haben, neu zu denken, Momente, die am Ende Großes bewirkt haben. Über die Gefühle, über den Geist und die Gesetze. Träume, die in Erfüllung gegangen sind. Nein, nicht vollständig. Aber doch vielerorts. Es ist eine schöne Geschichte, mit Hintergrund, eine tolle Inszenierung. Doch draußen toben Kriege, die uns entgleiten, die eine erschreckend blanke Hilflosigkeit der „zivilisierten“ Gesellschaften offenbaren. Für die auch Martin Luther Kings Träume keine Lösung weisen. Wir verlassen das Theater. Tief beeindruckt. Gefestigt in dem Geist, Unrecht keine Chance geben.

Wir sind wieder draußen. Wir wissen um die Not in den Krisenregionen. Wir zeigen uns tief betroffen und waren es sogar. Bis unsere Wahrnehmung uns „Entwarnung“ signalisierte. Die Gefahren sind weit weg. Deshalb gibt es keinen Grund zur Panik, zu akuter Sorge. Und keinen Grund, etwas zu unternehmen. Gegen das Unrecht. Nicht wahr?

Im September 2014

Vorführeffekt

OLYMPUS DIGITAL CAMERASie sind eingeladen. Zum Vortrag. Sie stellen sich der Aufgabe. Sie kramen in Ihrem Gedächtnis, in Ihren Unterlagen und Ihren Erinnerungen. Sie kommen und präsentieren. Sie werben um die Gunst des Publikums. Auf Ihre Art. Und Sie warten auf eine Resonanz. Eine gute, eine positive. Sie sei Ihnen gegönnt. Und sie wird Ihnen zuteil. Sie erfüllen Ihren Zweck. Und dafür gibt es das fällige Lob. Da können Sie sicher sein.

Sie sind eingeladen. Als Experte. Als Mann der Praxis. Mit guten Gründen und gut begründet. Sie werden gebraucht, so viel ist klar. Sie müssen es tun und tun es gerne, denn Sie werden ja gebraucht. Schließlich dient es einer guten Sache. Ihre Einladung lässt hier keinen Zweifel. Sie haben die Ehre. Ehrenamtlich.

Sie sitzen in der ersten Reihe. Sie werden vorgestellt. Mit anderen Referenten. Sie haben Ihr Thema. Sie spielen Ihre Rolle. Die Ihnen zugewiesen ist. Sie verzichten auf ein Honorar. Selbstverständlich. Und Sie freuen sich über das Wein-Präsent des Gastgebers. Von mittlerer Güte. Wie üblich.

Die Veranstaltung wird ein Erfolg. Der Gastgeber ist zufrieden. Ein Glanzlicht des Jahres. Viele Teilnehmer. Die Referenten waren erstklassig, haben überzeugt. Ausnahmslos. Ziel erreicht. Wir gehen wieder zur Tagesordnung über. Und tragen in uns die Erinnerung an die Atmosphäre, an die Referenten, die Gespräche und den Gastgeber, den glänzenden.

Gute Unterhaltung. Eine tolle Aufführung. Eine tolle Vorführung. Der Referenten. Für eine gute Sache. Die Sache des Gastgebers.

Im September 2014

Bankverbindung geknackt

OLYMPUS DIGITAL CAMERAIch habe meine Bankverbindung geknackt. Sie ist erledigt. Jedenfalls fast. Jedenfalls dann, wenn mich eine schriftliche Bestätigung von meiner Unsicherheit erlöst. Von meiner Unsicherheit, ob es geklappt hat, mit der Bank. Dass ich nicht missverstanden werde: Es geht mir nicht um´s Geld. Es war ohnehin zu wenig, als dass es greifbare Früchte hätte tragen können. In der Finanzwelt. Bar habe ich es. Es ist bescheiden genug, meine Geldbörse nicht allzu sehr zu strapazieren, sie aufzublähen, wie es sich eher für Protagonisten anderer Provenienz schickt. Nein, es geht mir nicht um´s Geld. Es ist die Bank. Ich habe sie geknackt. Nicht die Bank selbst. Aber meine Verbindung zu ihr. Einfach so. Aus Übermut habe ich mich mit einer mächtigen Institution angelegt, bei der mich wiederholt eine vehemente Unsicherheit darüber befällt, ob nun sie oder unser Gemeinwesen sagt, wohin morgen die Reise geht. Unsere gemeinsame Reise in die Zukunft.

Jetzt bin ich frei, sozusagen bankverbindungslos. Mein Leben hat einen wohltuenden Riss bekommen. Fast erschien es mir frevelhaft darauf zu bestehen, das Konto zu löschen. Endgültig. Und doch bin ich froh, einen Schlussstrich zu ziehen unter eine zweifelhafte Freundschaft, bei der sich alles nur ums Geld dreht und um alles andere, was man darum herum spinnen und bauen kann. Festungen des Geldes zum Beispiel, ehrwürdig auftrumpfende Bauwerke in zentraler Lage. Tempel der Finanzwelten für die Gemeinschaft der Bankengläubiger. Ihren Banken verbunden. Schier unauflösliche Verbindungen. Und ich? Ich habe sie geknackt. So hoffe ich doch. Meine Bankverbindung.

Im September 2014

An Opfern reich

OLYMPUS DIGITAL CAMERAVoorsicht. Aufpassen. Jetzt keinen Fehler machen. Respekt, bitte. Ich weiß, wo ich hingehöre. Seit ich gewählt bin. Mit überwältigender Mehrheit übrigens. Das war so erhebend schön, ein Quantensprung in meinem Leben, Ergebnis guter Leistung, von Anstrengung und Disziplin. Nicht geschenkt. Beileibe nicht. Es gab so Momente, da hatte ich selbst Zweifel. Nein, keine Selbstzweifel, ich war nur unsicher, ob es gelingen könnte. Hatte alles auf eine Karte gesetzt – und hab´am Ende gewonnen. So sehen Gewinner aus. So wird´s gemacht. Die Rechnung ist aufgegangen. Das Ergebnis stimmt. Und damit der an Opfern reiche Weg. Denn – wie sagte doch damals Kanzler Kohl: Entscheidend ist, was hinten rauskommt. Hab ich mir gemerkt. Er hatte Recht. Er hatte ja so Recht. Und das lasse ich mir nicht nehmen. Voorsicht. Aufpassen. Jetzt keinen Fehler machen. Respekt, bitte.

Im September 2014

Hammerhütte

OLYMPUS DIGITAL CAMERAHier ist nichts Gutes zu erwarten: Blanke Tische. Ein paar Bohlen davor. Alte Luft, abgestanden, zu kühl. Kein warmer Hauch, ein stillgelegter Heizkörper ohne Funktion. Speckige Menükarten vergällen uns den Appetit. Es bleibt der Hunger. Wir frieren. Die kalten Getränke erwärmen uns nicht. Wir warten. Draußen huscht der Koch über den Hof, in die belaubte Gartenhütte, Quell des Gasthauses. Ein Vorratslager voller Konserven, eingebunkert für den Ernstfall. Wie heute. Wer immer den Wurstsalat bestellt hat, er kann ihn kommen sehen. Eimerweise-Speise läuft zurück durch eine schmuddelige Tür mit der Aufschrift „Küche“, die eher Fluchtgedanken in uns weckt als die Hoffnung, dass doch noch ein Wunder geschehen könnte. Wir bleiben tapfer. Die Zeit vergeht rasend, während wir warten. Und warten. Zwei Beilagensalate fliegen ein, drehen eine kleine Ehrenrunde, bevor sie ihren Platz gefunden haben. Wir kalkulieren: Salat ist schnell gemacht, Grünzeug ist schnell geschnitten, gemischt und serviert. Ein Dressing drauf und fertig. Warme Speisen sind damit nicht zu vergleichen.  Warmes kann noch dauern. Alle warten auf etwas Warmes. Und dann geschieht es doch: Vier Hände liefern vier Portionen. A la Carte trudeln nach und nach alle warmen Gerichte ein und suchen sich ihren Platz. Es wird still. Und irgendwie wärmer. Für einen Moment schweigen unsere bösen Ahnungen. Es schmeckt besser als erwartet. Fast richtig gut. Gemessen an unseren Ewartungen, den geringen. Ein Hammer, diese Hütte.

 September 2014

Nicht viel

OLYMPUS DIGITAL CAMERAStationen der ersten Jahre. Das Haus, in dem ich geboren wurde, der Kindergarten, die Schulen. Die Kirche, gleich um die Ecke. Die Plätze, auf denen wir gespielt und miteinander gerungen haben. Kinder mit schwarzen Füßen. Wir spielten im Staub spitzer Hochofenschlacke, die zerbröselte und bei Stürzen tief in unsere Knie eindrang. Ein ganzer Haufen Kinder gleicher Altersgruppen. Darunter Einzelkinder, gut ausgestattete, mit Tretrollern, Fahrrädern, begehrenswerten Wiking-Auto-Sammlungen, die wir auf den Mauern der Kellerabgänge zu kleinen Fahrzeugkolonnen aufreihten. Und wir Vier: Zwei Mädchen, zwei Jungen. Aus einem sparsamen Elternhaus. Wir hatten, was wir brauchten. Und brauchten nicht viel. Bis heute.

Im Juni 2014

Später Schulbesuch

Meine Volksschule.  Das vertraute Gebäude. Es war damals ein modernes Haus, verklinkert, mit großen Fenstern und einer Aula gleich im Eingangsbereich. Der Flötenspieler an der Wand, ein rot-weißes Gemälde, ist noch da.  Auch die dunklen Fliesen mit  hellen Sprenkeln haben die Zeiten überlebt und wecken meine Erinnerungen. Fast vergessen hatte ich das helle Farbenspiel des Geländers, das uns freundlich ins erste Stockwerk begleitete.  Die Schule wirkt heute seltsam verstümmelt, ihrer Anmutung beraubt. Wo ursprünglich ein Trakt mit Funktionsräumen lag, schließt heute eine hohe Wand den Baukörper nach außen ab. Provisorisch mit dunkler Farbe gegen eindringende Feuchtigkeit geschützt. Der Hausmeisterbungalow fehlt. Ist verschwunden. Meine Schule  hat ihr Gleichgewicht verloren, wird bald einstürzen.

Es berührt mich, noch einmal die Originaltüren zu sehen, die mir als Kind von montags bis samstags Einlass gewährten. Es tut gut, die Fenster stark gealtert noch in ihren alten Rahmen vorzufinden. Fenster, durch die wir die im 3. Schuljahr Güterwagen auf der nahen Eisenbahnlinie zählten. Es waren 50 und mehr. Vorne eine Dampflokomotive.  Die Fenster, die Türen, die Schule: Die Zeit ist über sie hinweggegangen. Sie halten nicht mehr lange. Die Abrissbirne ist nahe, scheint aber diesen Tag noch abgewartet zu haben: Meinen späten Schulbesuch.

Im Juni 2014

Plakativ

OLYMPUS DIGITAL CAMERADruck. Große Plakate und kleine. Und Stimmzettel. Die Druckhäuser haben gut zu tun. Alle 4 oder 5 Jahre. Und immer zwischendrin, wenn gerade Wahlen anstehen. Eine uralte Zunft rotiert.  Mit allen politischen Farben. Mit großen Mengen wie mit kleinen. Nach dem Proporz. Für die Großen mehr, für die Kleinen weniger. Umgekehrt wär´s nicht zu bezahlen. Von den Kleinen. Das sagt das Parteiengesetz. Alles in allem verlässt eine tonnenschwere Papierflut in den Vorwahlwochen die Rotationswalzen, um dann an großformatige Wände gekleistert zu werden oder einfach nur in den Wahllokalen als Wahlbrief oder als Stimmzettel ihren Staatsdienst zu tun. 

Der Wähler versteht nur die einfache Sprache. Ein Bild. Ein Plakat. Und wo er das Kreuzchen machen muss. Sonst hätte er sich längst gewehrt. Also setzt die Politik weiterhin auf die Kraft der Plakate. Bis zum Tage X. Dann fiebern die Kandidaten, brauchen detaillierte Fakten. Dann regiert wieder die digitale Technik. In Bruchteilen von Millisekunden entstehen und erlöschen die ersten und die letzten Prognosen, um dann irgendwann einer erlösenden Zahl Platz zu machen und diese festzuschreiben: dem Wahlergebnis.

Über das Internet, über die Fernsehsender sowie die Rundfunkkanäle sind die Kandidatinnen und Kandidaten live dabei, wenn es um ihre Stimmen geht. Und um die ihrer Partei. Voll digitalisiert spielt sich das alles ab. Mit den raffiniertesten Spielzeugen der technisierten Welt versucht die Politik, noch einmal anzukommen, den Wähler zu fesseln. Wenigstens an dem Tag, an dem er sagen kann, seinen – wenngleich geringen, wie er meint – Einfluss geltend gemacht zu haben. Es ist schon eine Show, so eine Wahl.

Und erst diese Botschaften. Vor der Wahl. So unverbindlich, so sympathisch und so plakativ.

Im Juni 2014

Biologisch abbaubar

Die alten Wahlplakate. Sie blicken auf uns herab, wie aus einer anderen Zeit. Sie sind von gestern, haben ihre Farbe eingebüßt, sind schmuddelig geworden. Vergessene Relikte einer Zeit vor der Wahl, an die sich später allenfalls noch ein paar Bürger so recht erinnern mögen, wenn die Politik schon längst zu ihrem Geschäft zurückgefunden hat. Im Eifer seiner neuen Aufgaben hat so mancher Mandatsträger für Jugendsünden wie Wahlplakate nun keine Zeit mehr. Am Ende erbarmt sich ihrer schließlich die Natur. Die Plakate sind, wie heißt es so schön, biologisch abbaubar. Kleine Mikroben arbeiten, begleitet von Wasser und Sonnenlicht, bis nichts mehr übrig bleibt. Von der Substanz, von der Farbe und von der Botschaft. Fleißige Tierchen. Lassen nichts mehr übrig. Auch nichts von plakatierten Wahlversprechen. Wo es sie je gegeben haben sollte.

Im Juni 2014

Teure Armut

OLYMPUS DIGITAL CAMERATeure Armut. Wer nichts hat, bekommt nichts. Zum Leben. Vielleicht einen Lohn, der gerade reicht. Zum Überleben. Vielleicht aus der Kasse für Arme. Vielleicht  ein Essen aus dem Topf für Bedürftige. Wir sind ja nicht so. Fragen nicht nach Schuld. Uns geht´s ja gut. Es gibt keinen Anlass zur Diskussion. Nicht umsonst haben wir einen Sozialstaat. Der es richtet.  Bis die Sozialkassen leer sind. Sie ist nämlich teuer, die Armut.

Wir haben die Menschheit weitergebracht.  Wir lassen Maschinen arbeiten. Mit berauschender Produktivität.  Intelligente Netze steuern die Welt präzise mit höchster Effizienz. Mutig investieren wir unsere Spareinlagen. Fest verzinslich, den Rest in Immobilien und in Fonds. Die Wagemutigen trauen sich in Derivate. Und wir warten geduldig ab. Wie hoch mag der Ertrag diesmal sein? Wir wissen um die Risiken. Und die Chancen. Aber irgendjemand muss ja nach vorne gehen. Irgendjemand muss ja investieren. Etwas riskieren.  Entwicklung braucht Mut und Entschlossenheit.  Wir kneifen nicht, haben es nie getan und so die Menschheit ein gutes Stück weitergebracht.

Armut ist uns teuer. Wenn sich dann einer der Habenichtse regt und tut, was er kann, dann ist es uns nur recht. Ja, strample nur. Das wollen wir sehen. Streng dich an. Gib dein Letztes. Überstunden. Ja. Wenn´s sein muss. Auch wenn´s weh tut. Es gibt doch nichts Schöneres, als aus eigener Kraft auf die Beine zu kommen. Eine wertvolle Arbeitskraft zu werden. Schließlich sind die Menschen unser Kapital. Sie rechnen sich. Solange sie arm sind. Armut ist uns teuer.

Die armen Teufel, die schon eine schlechte Kindheit hatten? Sie sind bei uns in besten Händen. Kriegen Vorschuss. Fördern und fordern. Ja, in dieser Reihenfolge. Wer willig ist, dem geben wir eine Chance. Er darf auf eine Beschäftigung hoffen. Ziemlich gut bezahlt. Gemessen daran, dass er ja gar nichts hat. Er braucht keine „Stütze“ mehr, muss nicht mehr vor den Stuben der Sozialbürokratie auf Bewilligung seines Lebensunterhalts warten.  Er hat eigenes Geld. Selbst verdient. Durch harte Arbeit. Du glücklicher armer Teufel.

Wir haben den Komfort in die Welt gebracht. Luxus für die Tüchtigen. Penthäuser in bester Lage. Mit Meeresblick und eigenem Pool. Unsere Autos sind High-Tech- Wunderwerke, klimatisiert, allerfeinst ausgestattet mit den Helferlein, die man einfach so braucht: Massagesitze, Rückfahrkameras und Signalgeber, wohin man sieht – oder wegen der atemberaubenden Form der Karosse nicht mehr sehen kann. Und wir haben diesen Luxus demokratisiert. Jeder kann ihn haben. Unsere Errungenschaften ziehen immer mehr auch in Produkte ein, die schon bezahlbar sind. Oder bezahlbar werden. Oder zumindest finanzierbar. Wenn jemand nur ein festes Einkommen hat.  Luxus auch für dich, du armer Teufel.

Wie wir das alles schaffen? Es ist alles eine Frage der Kalkulation. Wir lassen unser Kapital arbeiten. Das geht natürlich nur dann, wenn man bereit ist, Grenzen zu überschreiten. Zum Beispiel die Staatsgrenzen. Ja, wir wagen den Grenzübertritt. Wir gehen dort hin, wo unser Kapital die höchste Rendite einfährt. Wir, das ist nicht ganz korrekt. Korrekt muss es heißen: unsere Finanzanlagen, unser Geld und unsere Fonds. Immerhin. So holen wir den Wohlstand in unser Land. Mit erheblichen Risiken. Aber darüber wollen wir hier gar nicht reden. So schaffen wir das.

Und du, was tust du, du armer Teufel? Du meuterst. Solltest du dich nicht ganz schön anstrengen, ein bisschen schneller arbeiten? Und ein bisschen mehr. Das ist ja wohl das Mindeste, war wir erwarten können. Bei dem gnadenlosen globalen Wettbewerb. Sonst ist es morgen aus. Andere wären froh, so viel Geld zu verdienen wie du. Du solltest dankbar sein, hier leben und arbeiten zu können.

Du bist nicht einverstanden? Du willst mehr?

Bis hier hin. Und nicht weiter.  Überspann den Bogen nicht. Du armer kleiner Teufel.

Wir brauchen dich doch. Deine Armut ist uns teuer genug.

Im Mai 2014

 

Vorgeschrieben

OLYMPUS DIGITAL CAMERADas Grundgesetz. Die Pressefreiheit wird gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt. Von Staats wegen. So steht es dort. Im berühmten Artikel 5.

Dann schreibt mal schön. Wer hindert euch? Die Zeit. Sie ist zu kurz? Für all die Mails? Für die Texte der Vielen, die ihr nicht übersehen dürft? Für Namen, die nicht fehlen dürfen? Für Botschaften, die zu transportieren als eure Pflicht erscheint? Und dann noch politisch korrekt, bitte?

Ihr tut, was ihr könnt. Seid an Weisungen nicht gebunden. Weisungsfrei. Niemand nimmt euch die Freiheit. Das ist Ehrensache. Und ein Bekenntnis zu einem der höchsten Güter, die eine Gesellschaft haben kann: der Pressefreiheit.

Wir lesen, was wir lesen sollen. Was jemand sich erdacht. Was er uns sagen will. Unverfälscht. Authentisch. Auf Wirkung bedacht. Geschaffen, ihm zu dienen. Wer schreibt, der bleibt. Wenn er zahlt. Egal wie, egal wann. Mächtig. Macht macht´s billig. Nicht gut.

Nicht willens, aber willfährig steht ihr ihm zu Diensten. Pressefreiheit. Ihr seid so frei. Es ist so vorgeschrieben.

Im Mai 2014

TTIP21

OLYMPUS DIGITAL CAMERALogisch. Wo der Aufwand sinkt, steigt der Ertrag. Transatlantisch. Für die Amerikaner und die Europäer. Wir werden reicher, wenn erst die Handelshemmnisse abgebaut sind. Zölle werden auf Null gesetzt. Wir messen nicht mehr mit zweierlei Maß. Künftig wird nur noch einmal genormt und geprüft. Entweder in den USA oder bei uns, im guten alten Europa. Natürlich bei gleichem Schutzniveau. Für unser Leben. Für unsere Gesundheit, für unsere sozialen Errungenschaften und unsere Umwelt.  Niemand muss ein Absenken der Standards befürchten. Hüben wie drüben. Wo also ist das Problem? Weshalb gehen so viele Gruppierungen derzeit auf die Barrikaden?

Die zwischen der Europäischen Union und den USA seit Juli letzten Jahres laufenden Verhandlungen über eine transatlantisches Handels- und Investmentabkommen (Transatlantic Trade and Investment Partnership, TTIP),  spalten die Gesellschaft. Während die Wirtschaft, allen voran der BDI, der VDMA und der DIHK, die geplanten Handelserleichterungen ausdrücklich unterstützen,  schwelt bei so mancher Gruppierung, mögen es Verbraucherschutzvereinigungen oder Umweltorganisationen sein, ein tiefes Unbehagen gegenüber dem, was da kommen soll. So befürchtet der Deutsche Gewerkschaftsbund schlicht negative Folgen auf die Arbeits-, Einkommens- und Lebensbedingungen.

Da scheint die umfassende Aufklärungsarbeit der EU nicht zu fruchten. Die Kommission lässt keinen Zweifel daran, dass sie nicht gewillt sei, beim Abschluss des Abkommens Einbußen  für EU-Bürger hinzunehmen. Sie erklärt, keinem Land der EU werde ein Regelwerk aufgezwungen. Sie sagt, am Ende seien allein das EU-Parlament und die einzelnen Mitgliedsstaaten befugt, die ausgehandelten Papiere in Kraft zu setzen. Allein, das alles reicht offenkundig nicht aus, um die Gegner umzustimmen.

Schlimmer noch: Es drängt sich der Eindruck auf, dass wir womöglich erst am Anfang einer breiten Widerstandsbewegung gegen das Freihandels- und Investitionsschutzabkommen stehen könnten. Wer das ignoriert, ohne sich den ausgesprochenen Sorgen zu öffnen, ohne zu unterscheiden, wer mit seinem Widerstand nur „sein eigenes Süppchen kocht“ und wem es der Sache wegen ernst ist, der läuft Gefahr, dass am Ende die auch aus Gründen der geopolitischen Balance der wirtschaftlichen Kräfte sinnvolle Stärkung der Partnerschaft zwischen den USA und der EU scheitern könnte.  Mit einer weiteren Entfremdung der Wirtschaftspartner diesseits und jenseits des Atlantiks.  Und mit rascher schwindendem Einfluss Europas auf die globale Wirtschaft.

Wir haben in Stuttgart erlebt, wie Projekte scheitern können, wenn es nicht gelingt, die Menschen mitzunehmen. Wir sollten nicht die gleichen Fehler machen. Wer sich mit den TTIP-Verhandlungen beschäftigt, ist klug genug, sich anhand der Fakten überzeugen zu lassen. Dazu gehört aber auch, dass er Antworten auf seine Sorgen findet. Hautnah. Greifbar. Durchgespielt am einzelnen Fall. Unter Auswertung der Erfahrungen, die die EU mit anderen Handels- und Investitionsabkommen bereits gemacht hat.  Dazu gehört auch das Zugeständnis, dass es kritische Verhandlungspunkte gibt, die große Sorgfalt beim Abfassen des Vertragstextes erfordern. Und dazu zählt eine offene Berichterstattung, die dies nicht ausblendet. Die Skeptiker sind nicht dumm. Und sie lassen sich nicht für dumm verkaufen. Wir müssen sie gewinnen. Sonst verlieren am Ende alle. TTIP21.

Im Mai 2014 

Netter Mario

OLYMPUS DIGITAL CAMERADu bist so klug. Es zu tun. Wie könntest du auch anders? Wer sagte das? Ja dann. Klar. Aber nicht deswegen. Nein. Richtig betrachtet, ist das ja auch ganz toll. Eine tolle Idee. Findest du. Bald selbst. Schon ganz bald. Du denkst nach. Ja, es ist gut. Muss es  sein. Findest jede Begründung. Es kommt ja von oben. Gut eingefädelt. Mario, du bist so klug. Und so nett.

Im Mai 2014

Herzlichkeit

OLYMPUS DIGITAL CAMERALästige Pflicht. Eine Gratulation. Wie alt? Ich dachte, der wär´ noch jünger. Machen Sie´s fertig. So wie immer. Müssen wir etwas Besonderes erwähnen? Nein? Gut, dann nehmen Sie die Kurzform. Danke. „Zu Ihrem heutigen Festtag darf ich Ihnen persönlich, aber auch im Namen des ganzen Vorstandes, unsere herzlichen Glückwünsche übermitteln.“ Kategorie B. Notwendig, aber nicht wichtig. Zu unbedeutend. Herzlose Herzlichkeit.

Im Mai 2014

Ich verspreche nichts

OLYMPUS DIGITAL CAMERAWer weiß, was sein wird, wenn dieser Kommentar gedruckt vorliegt. Zwischen dem Erscheinungsdatum und dem Redaktionsschluss liegen dann mehr als 10 Tage. Hat der Bundestag dann vielleicht über die Übernahme der Hypo Real Estate Bank entschieden? Nichts erscheint mehr unmöglich nachdem das Finanzmarktstabilisierungsgesetz in drei Tagen (15. bis 17. Oktober 2008) sowohl drei Lesungen des Bundestages, eine gemeine Sitzung des Haushaltsausschusses und des Rechts-, Finanz- und Wirtschaftsausschuss, danach den Bundesrat passiert hatte, es vom Bundespräsidenten am 17. Oktober unterschrieben und am selben Tag im Bundesgesetzblatt erschienen war, um am darauf folgenden Samstag in Kraft zu treten.

Rekordverdächtig ist neben der wohl organisierten Eilfertigkeit der schier ungeheuerliche Inhalt: Der Bundesfinanzminister wurde zur Behebung von Liquiditätsengpässen im Finanzsektor ermächtigt, Garantien bis zur Höhe von 400 Milliarden Euro und zusätzliche Kredite von 70 Milliarden Euro zu zeichnen. Das sind neue Risiken in einer historisch neuen Dimension. Sie allein addieren sich auf ein Drittel der Gesamtverschuldung von Bund, Ländern und Gemeinden zusammen (1,5 Billionen im Jahre 2007). Das Bundesgesetzblatt vom 17. Oktober 2008 dokumentiert eine Zeitenwende unserer Wirtschaftsgeschichte. Es gehört in die Annalen. Danach kann niemand einfach zur Tagesordnung übergehen.

Offenkundig war auch die Pressestelle des Bundestages tief bewegt. Ein Schreibfehler in ihrer Meldung vom 30. Oktober sorgt dafür, dass die Verabschiedung des Gesetzes auf den 10. Oktober datiert wird. Das wäre noch vor der ersten Lesung am 15. des Monats. So wenig wie unsere Volksvertreter die natürlichen Zeitabläufe umkehren können, werden sie mit ihren Beschlüssen die Spielregeln des Kapitalmarktes ändern.

Noch wissen wir nicht, was unsere Berliner Prominenz in diesen denkwürdigen Tagen guten Willens, das Schlimmste zu verhüten, angerichtet hat. Sie weiß es ja selbst nicht.  Respekt verdient die logistische Meisterleistung, Unbehagen bereiten ihre Folgen. Die Rechnung wird später präsentiert. Sicher, nichts zu tun, hätte jedermann als sträflichen Leichtsinn verurteilt. Die Finanzierung der Wirtschaft war bedroht. Die Banken trauten sich gegenseitig nicht mehr, wie wir heute wissen, aus guten Gründen. Sie, deren Kerngeschäft darin besteht, nur solche Gelder auszuleihen, die mit Zins uns Zinseszins ganz sicher und rechtzeitig zurückgezahlt werden, sie trauten sich nicht mehr über den Weg. Hier sollte der im Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung (SoFFin) helfen. Anfang Februar waren für 164 Milliarden Euro Garantien gewährt und weitere und 18 Milliarden Euro an Eigenkapital an die Commerzbank ausgegeben. 15 Anträge und 20 weitere Voranfragen standen zur Bearbeitung an. Gleichzeitig aber brechen die Aufträge der Industrie ein, bilden Rezession und Finanzrisiken eine unheilvolle Allianz. Wir sind offen für neue Überraschungen. Ein Zitat des Bundesfinanzministers Peer Steinbrück vom 29. Januar 2009 gegenüber der Berliner Zeitung kennzeichnet die Lage: „Ich verspreche nichts, also glauben Sie mir.“

März 2009

Eigentum

OLYMPUS DIGITAL CAMERAEin eigenes Heim. Traum ganzer Generationen. Etwas haben. Es mehr als besitzen. Eingriffe abwehren dürfen. Eigentümer sein. Eigentum steht unter dem Schutz des Grundgesetzes.

Mit unserer Geburt treten wir in eine Welt ein, in der jedes Fleckchen Erde und alle Güter, materiell oder immateriell, Menschen als Eigentum zugeordnet sind. Manche Menschen sind von Beginn an dabei. Andere bis zu ihrem Lebensende nicht, soweit es um Güter geht, für die andere bereit sind, einen Preis zu zahlen. Man kann reich auf die Welt kommen und arm sterben. Und umgekehrt. Aus welchen Gründen auch immer.

Eigentum war immer etwas Besonderes. Und sei es nur auf Pump finanziert. Es hat uns Freiheiten gegeben. Es hat uns befreit von Bindungen, von Verträgen mit Rechten und Pflichten, von Miet- und sonstigen Nutzungsverträgen. An deren Stelle trat nur das allgemeine verfassungsrechtliche Gebot, wonach Eigentum nicht nur Rechte begründet, sondern auch verpflichtet. Wozu und in welchem Umfang auch immer.

Das erste Auto. Es zu haben, war unser Ziel. Wir wollten damit keine Fahrkarte nach Irgendwo lösen. Wir wollten die Technik, die Eleganz und ein bisschen auch dieses vorzeigbare Gefühl, es geschafft zu haben. Formen, Farben, die Leistung, die technischen Merkmale waren übersichtlich und uns gut vertraut. Es ging um Hundertstel von Volumenanteilen, um die Anzahl der Zylinder, um die Technik der Gemisch-Aufbereitung unserer Benzinkutschen.  Wir hatten vorher alles aufgenommen, uns zu eigen gemacht, waren eins mit unserem Erwerb.

Das gute alte Eigentum. Wir waren unser eigener Herr. Unser Haus. Wir haben drauf gespart, haben ausgeschachtet, gemauert und renoviert. Unsere eigenen vier Wände waren uns Festung gegen die Welt, wenn sich dort etwas gegen uns zusammenbraute. Rückzugsort, sicherer Hort, der Krisen überdauerte. Altersversicherung erster Güte, vererbbar zur Freude der Nachfolger. Stete Freude bei überschaubarer Last. Ein Schatz des kleinen Mannes. Eigentum.

04. Januar 2014

Aufwachen mit Kopfweh

Der Kunde ist eine vom Aussterben bedrohte Spezies. Er steht auf der Roten Liste ganz oben, nachdem immer mehr Einmal-Verkaufsaktionen großer Händlerketten dem kleineren und mittleren Fachhandel zugesetzt haben. Wo bleibt unsere Beziehung zum Kunden, unser Bemühen um Beratung und Service, ja, unsere Sorge über die Dienstleistungswüste Deutschland, wenn heute Unterwäsche typischerweise im Kaffee-Depot, die Rührschüssel für unseren Sonntagskuchen im Baumarkt und Computer als Stapelware beim Lebensmitteldiscounter erworben werden?

Montagmorgen. Aus der Tageszeitung fällt ein Satz vierfarbiger Werbebeilagen. Verführungen pur. Unschlagbare Preis- Leistungskonditionen. Unschlagbar? Dem Leser scheint es so. Und er konzentriert sein Interesse auf die Großanbieter. Wohlsortiert und scheinbar konkurrenzlos günstig. Service? Kein Gedanke. Service, das steht da, kein Problem. Im Übrigen weiß der Kunde, was er will – meint er. Und er lädt ein, was er kriegen kann, bis auch der letzte Winkel seines Lebens mit den lebensnotwendigen Schnäppchen unserer Überflussgesellschaft zugemüllt ist. Unkultur des Einkaufs. Armer Verbraucher. Was hast du nur gemacht?

Cash und carry – cash und carry – cash und carry. Oder vom Stress des Jägers und Sammlers in den Einkaufsmaschinerien unserer Zeit, in denen uralte Leidenschaften kulturelle Errungenschaften dem Wühlen in Regalen und geduldigen Anstehen an automatischen Kassen opfern. Massenhaft.

Größe entscheidet. Die Masse macht´s. Macht Marktmacht. Macht über Kunden. Schade um den Kunden. Schade um sein Geld, mit dem er sich so viele Wünsche hätte erfüllen können. Verjubelt auf dem Rummelplatz der Schnäppchenjäger. Verpufftes kurzlebiges Vergnügen. Aufwachen mit Kopfweh. Aufräumen nach einer durchzechten Nacht. Auskehren für die Müllabfuhr. Ein neuer Tag beginnt.

Im August 2005

Die Quittung kommt – garantiert

OLYMPUS DIGITAL CAMERAWir zahlen, wenn die Bürgschaft fällig wird. Auf ein paar Milliarden kommt es schon gar nicht mehr an.

Ein böses Erwachen nach durchzechter Nacht. Was haben wir nur angerichtet? Wir? Da war doch was? Ach ja, ich erinnere mich, ein Börsenfeuerwerk, traumhafte Renditen, unsere Vollrauschparty.

Auf Pump. Verzockt sind die Früchte unserer „Realwirtschaft“. Die Ersparnisse unserer Arbeit? Wir haben sie eingesetzt. Geld muss arbeiten. Mit höchster Rendite. Bereitwillig haben wir unser kleines Vermögen denjenigen überlassen, die angeben, etwas davon verstehen. Ein bisschen Risiko muss sein.  Aber alles mit Maßen.

Wir, die wir fleißig und redlich unseren Lebensunterhalt durch Arbeit bestreiten, haben mit gezündelt, haben auf Papiere mit guter Performance gesetzt, haben uns im Erfolg der Finanzmärkte gesonnt. Wir haben unserer Vernunft Einhalt geboten, wollten weiter träumen. Nicht Arbeit, sondern die richtige Anlagestrategie, versprach eine unbeschwerte Zukunft.

Wir träumen weiter. Die Billion(en),  die unsere Vertreter in Berlin in unserem Namen zu Lasten unserer Kinder quergezeichnet haben, sie sind doch nicht unser Problem! Verdrängt, beinahe vergessen. Doch es hilft nicht: Mit derselben Konsequenz, wie die Finanzblase platzen musste, werden uns unsere Schulden einholen. Wir zahlen. Garantiert ohne Garantie. Ohne Staatsgarantie. Denn der Staat sind wir.  Der Staat kann nicht Pleite gehen? Aber wir.

Unsere Kinder rechnen ab. Oder sie gehen. Sie sind flexibel, suchen ihr Glück andernorts. In der Welt kennen sie sich aus. Sie ist reich an Alternativen. Die übrigen rechnen auf. Ihre Erblasten gegen unsere Wünsche des Alters, verbrieft in Renten- und Pensionszusagen, in Wertpapieren und in Geldanlagen, die nicht einmal unsere eigenen Ansprüche an ein menschenwürdiges Alter werden decken können.  Der klägliche Rest eines Lebens, in dem materielle Verführung mehr zählte als menschliche Zuwendung.

Und ist es nicht recht so? Hatten nicht wir selbst es in der Hand, der Gier einen Riegel vorzuschieben, die Übertreibungen einzudämmen? Wir haben es versäumt. Wie seit unvordenklicher Zeit hat auch unsere Generation selbstverständlich nicht die Folgen ihres Unterlassens in diesem Umfang vorhersehen können.  Allen Warnungen zum Trotz.  Sicher, das Internet hat den Globus schneller erschlossen, als alles was es vorher gab. Wir mussten erst lernen, mit den neuen Werkzeugen umzugehen, bevor sie alle früher vorstellbaren Dimensionen endgültig gesprengt haben.  Verzeihlich ist allenfalls dass es hierbei auch Fehleinschätzungen gegeben hat. Mehr nicht.  Die Quittung kommt. Garantiert.

Mai 2010

Und niemand hat´s bemerkt

OLYMPUS DIGITAL CAMERAKluge Köpfe am Ende einer langen Sitzung. Gleich ist´s vorbei. Das Ende naht. Nur noch Verschiedenes. Routine wie gewohnt. Einstimmig waren alle Beschlüsse. Ein kurzer Vortrag. Keine Diskussion. Schon entschieden. Auch dieser Punkt. Nachgelegt unter „Verschiedenes“.  Nicht vorgelegt. Mit der Einladung. Gegen die Vorschrift. Eine bloße Formalie. Also unbedeutend. Das Vorhaben scheint stimmig. Keine Frage. Die Teilnehmer wollen nach Hause. Alle sind dafür. Der Plan ist aufgegangen. Die Weichen sind gestellt. Entscheidendes ist entschieden. Und niemand hat´s bemerkt. Gratulation.

04. Januar 2014

Qualitätsmanagement

OLYMPUS DIGITAL CAMERASei redlich. Sieh genau hin. Plane sorgfältig. Prüfe deine Pläne gründlich und setze sie umsichtig um. Sieh dir dein Werk an und lerne aus Fehlern, die du gemacht hast.  Beherzige dies in allen geschäftlichen Dingen („DIN ISO 00000“). Unsere uralte neue Norm löst ab: alle DIN ISO Qualitätssicherungsvorschriften, alle darin geforderten QM- Handbücher, alle Verfahrensvorschriften sowie alle internen und externen Audits. Das Zertifikat entfällt ebenfalls. Wir wollen ja redlich bleiben.

Lernmittelfreiheit

OLYMPUS DIGITAL CAMERAUnsere Schulbücher. Sie waren immer teuer. Und unser eigen. Wir haben sie geschleppt, aufgeschlagen und gelesen, haben Randbemerkungen und Kritzeleien hinterlassen. Unsere Bücher waren hernach wie wir. Schwer zu verstehen und höchst individuell. Bis die Lernmittelfreiheit kam, ein zwielichtiges, billiges Vergnügen. Die Schulbücher wurden ein Stück Gemeingut, verwaltet und zugeteilt. Gebraucht waren sie, wenn nicht ausnahmsweise neu. Geschleppt in fremden Taschen. Aufgeschlagen von den Vorgängern, von ihnen beschrieben. Ein bisschen abgenutzt, ein bisschen schmierig. Mal mehr, mal weniger. Langfingrig nahmen wir sie entgegen, blätterten unwillig darin.  Arbeiteten uns durch sie hindurch. Tauchten in sie ein, bis sie auch uns in sich aufgenommen hatten. Für den nächsten Jahrgang. Unsere Schulbücher.

Gestaltungssatzung

OLYMPUS DIGITAL CAMERADie Zeit des Wiederaufbaus hatte das zerstörte Land erfasst. Es ging wieder aufwärts. Mit viel Kraft und Zuversicht, sparsamen Mitteln und Bescheidung auf das Machbare. Das Notwendige war zu tun. Überflüssiges musste warten. Schlicht wurde es. Vielleicht auch schön. Es war die Leistung einer Generation, die aus den Trümmern Neues schuf. Häuser zum Leben. Nicht mehr.

Die 60er Jahre kamen, die 70er. Wir wurden mobil. Und die Städte veränderten ihr Gesicht. Kaufhauskuben drängten in innerstädtische Räume, prägten die Wahrnehmung, wurden zu Magneten für eine halbe Generation. Zeitgeist-schöne Tempel für bürgerliches Mittelmaß. Sie sind jetzt gottverlassen, haben ausgedient. Verloschen ist ihr Glanz. Graue Monumente einer vergangenen Zeit. Im Herzen unserer Städte. Unverrückbar, unantastbar. Bausünden unserer Vorfahren.

Wir kaufen längst woanders. Wir leben anders. Wir haben nichts am Hut mit dem, was mal war. Wir treiben es viel bunter. Schriller sind wir und natürlich schöner. Wir machen´s richtig. Nein, wir sind nicht sündenfrei. Wir leben jetzt. Heute. Basta.

Doch wir lassen es nicht treiben, haben uns unser unnachahmliches Gespür für  Gut und Böse erhalten. Wir gebieten der Verschandelung Einhalt. Wildes Plakatieren ist ab sofort verboten, noch viel mehr als sonst. Werbung darf um keinen Preis in der Welt auffallen. Fassaden kleiden sich künftig ganz im Retro-Look. Vorbei ist´s mit verwegener Vielfalt, vorbei mit Experimenten, die die Seele des Ästheten kränken könnten.

Vorbei ist´s mit des Planers frechem Übermut, der Formen sprengend Eigenes wagt. Wir räumen auf. Dort, wo Schlimmes geschehen ist und dort, wo Schlimmes geschehen könnte.  Zurück zu den Ursprüngen, heißt es jetzt. Zurück zu den 50er und den 60er Jahren. Als die Welt noch in Ordnung war. Als die Straßenzüge noch Format hatten, als die bunten Übertreibungen der 70er noch so weit weg waren. Wir verfügen: Einer Baugenehmigung der Bauordnungsbehörde unserer Stadt bedarf jede Veränderung des baulichen Zustandes, der Fassade oder der Fassadenelemente innerhalb des überplanten Bereichs. Verboten handelt, wer nicht unsere Erlaubnis hat.

Der gute Zweck gibt uns allen Anlass streng zu sein,  Recht und Ordnung amtlich zu besiegeln. Präventiv. Entschieden und auf kurzem Wege. Wir haben dem Wildwuchs den Kampf angesagt. Mit der ganzen Härte des Gesetzes. So ist´s recht.

Über Geschmack lässt sich nicht streiten. Jetzt nicht mehr. Wo er doch amtlich ist. Geregelt in unserer Gestaltungssatzung.

Kleinigkeiten

OLYMPUS DIGITAL CAMERASie sind unbedeutend. Und doch nicht ohne Bedeutung. Sie sind so klein. Und doch so groß. Bedeutungsvoll schieben sie sich nach vorn. Fesseln unsere Aufmerksamkeit. Sie sind nicht der Rede wert, sind weniger als die Randnotiz eines flüchtigen Augenblicks. Aber sie sind da. Unübersehbar. Unausrottbar. Nah. Sie lassen uns nicht los. Diese Kleinigkeiten.

Neue Zeit

OLYMPUS DIGITAL CAMERAWir haben Grenzen überwunden. All die kleinen. Wir haben unsere Territorien verlassen. Wir haben Mauern eingerissen. Wir bewegen uns im grenzenlosen Schengen-Raum. Wir jetten um die Welt. Nur noch wenige Enklaven bleiben uns verschlossen.

Wir offenbaren unser Innerstes und unser Äußeres auf Twitter, Facebook, Youtube und Co. Wir liefern unsere geheimsten Gedanken der Google Datenkrake aus. Wir zeigen Haut und sind so frei. Unser Freundeskreis: vertraute Grüppchen sind passé. Wir haben Freunde in aller Welt. Finde ich gut. Unsere engen Sprachräume haben an Weite gewonnen. Dialekte haben wir gleich gemacht. Die Sprache unseres Landes ist nur eine von vielen. Wir sprechen Englisch. Normung hat Wände eingerissen. Sie eröffnet die globale Zusammenarbeit. Die kleinen Nester, aus denen wir kommen, brauchen unsere Aufmerksamkeit nicht mehr. Da gibt es nichts zu verteidigen.

Wenn jetzt alle von allen alles wüssten. Wenn es keinen Grund gäbe für Industriespionage? Weil alle Gedanken, alle Pläne, von jedermann einsehbar wären? Wenn die Leidenschaften und die Tiefen menschlichen Geistes nicht im Verborgenen blühen könnten, sondern offenkundig wären. Wenn es keine Geheimnisse mehr gäbe, wenn jeder um die Entlohnung des anderen wüsste? Was wäre dann? Was hätten wir zu fürchten, was zu gewinnen?

Werden wir in ein paar Jahren unsere heutige Aufregung über NSA-Spionage, die Mitwirkung anderer Geheimdienste, selbst des Bundes, noch verstehen? Wie war das doch gleich mit der Orwellschen  Vorahnung einer total überwachten Welt? 1984 ist längst Geschichte. Alles ist um Zehnerpotenzen schlimmer, als er es vorausgeahnt hat.

Und wir sorgen uns nicht? Doch. Wir müssen uns sorgen. Denn es sind noch zu wenige, die über alle alles wissen. Müssen wir nicht die Geheimdienste stürmen, uns ihre Erkenntnisse zu Gemeingut machen? Alles für alle. Wo könnte dann noch ein Feind lauern? Mit welcher Absicht?

Wo es nichts zu verbergen gibt, gibt es keinen Anlass, etwas zu schützen, Mauern zu ziehen, und keinen Anlass, einzubrechen oder Mauern niederzureißen. Wenn erst an jedem Ort der Welt alles hergestellt werden kann, wie wir es heute bereits bei den exportierten Fabriken sehen. Wenn wir in absehbarer Zeit die kleinen Dinge des Alltags überall und an jedem Ort der Welt nach den gleichen Plänen herstellen können, wo bleibt dann die Notwendigkeit großer Transporte, der Umweltbelastungen, der schweren Infrastruktur? Zurück zur Natur mit modernen Mitteln?

Werden wir Betriebe haben? Werden unsere Arbeitsverhältnisse ganz andere sein? Werden wir Hierarchien einreißen? Wer wird morgen unsere Entwicklung vorantreiben? Was brauchen wir zum Leben? Wie könnten wir unseren Lebensunterhalt verdienen? Was wird aus denjenigen, die sich nicht einbringen können oder wollen? Wo gewinnen wir wieder Land und Boden, damit wir ein Dach über dem Kopf und eine warme Mahlzeit im Magen haben?

Wir stehen am Beginn einer Neuen Zeit.

Curriculum

OLYMPUS DIGITAL CAMERAWas habt ihr uns nur erzählt: Sei redlich, achte den Menschen. Gewissenhaftigkeit und Fleiß führen zum Erfolg.  Die Vernunft siegt. Heute weiß ich: Das ist alles Kappes. Erfolg fordert das glatte Gegenteil.

Warum habt ihr uns das verschwiegen? Mit welchem Recht habt ihr uns verschwiegen, dass das, was ihr uns gelehrt habt, nur der Realität entrückte Hoffnung war? Warum habt ihr uns verschwiegen, dass es mehr fruchtet, Menschen zu bewegen als kluge Gedanken? Warum habt ihr uns nicht gelehrt, was Menschen bewegt und wie Menschen zu bewegen sind,  dass die Klatschkolumne in der Boulevardpresse um ein Vielfaches schwerer wiegt, als strengste wissenschaftliche Disziplin? Warum habt ihr uns verschwiegen, dass Politik weniger mit Logik als mit dem Bauch zu tun hat, und im Streit von Bauch und Verstand stets der Klügere nachgibt? Warum habt ihr uns nicht gelehrt, wie der Mensch „tickt“, welche seiner Saiten wir bespielen müssen, um ihm seine Stimme zu entlocken?  Warum habt ihr uns das verschwiegen? Was habt ihr uns nur erzählt?

Problemlösung

Lösung, wo ist dein Problem?

Ist es gelöst?

War es nie da, nie hier, nie ein Problem,

dein Problem, das der Lösung, das ungelöste,

das Problem ohne Lösung, gelöst ohne Problem?

Lösung, wo ist dein Problem?

Amtsgewalt

OLYMPUS DIGITAL CAMERAEr hatte gewonnen. Seiner Amtseinführung wohnten alle Honoratioren bei. Er gehörte nun dazu, war einer von ihnen. Standesgemäß waren Büro und Dienstwagen. Er saß nun hinten, der Chauffeur vorne. So gehörte sich das. Eine wohltuende Distanz für großzügige Gesten. Er wuchs in seiner Achtung. Die ersten Entscheidungen waren ungewohnt. Er brauchte niemanden zu fragen. Das lernte er schnell. Er wurde hofiert. Von den Schmeichelnden. Er genoss es. Er war wer. Sein Wort galt. Er unterschied Gut und Böse, richtig und falsch. Er. Er gefiel sich. Ihm war es recht. Alles. Es war so schön.

Die Mitarbeiter waren ihm wichtig. Er brauchte sie. Er hatte keine Ahnung. Vom Geschäft. Brauchte sie auch nicht. Hatte jetzt seine Leute. Aber Mitarbeiter mäkeln. Ein alter Hut. Unter Führungskräften. Disziplinieren. Ja, man muss zeigen, wer Herr im Haus ist. Dann gibt´s Ruhe.

Es blieb unruhig. Dass Menschen so uneinsichtig sein könnten, war ihm bis dahin verborgen geblieben. Er versuchte es mit seinen guten Ratschlägen. Dann mit verdeckter Drohung, mit Nachdruck und gespieltem Verständnis. Es half nicht. Er bediente die Schmeichelnden und verstand die Welt nicht mehr. Er befahl. Bewegung gab es nicht. Dann gab er auf. Er hatte sein Amt. Und nichts dazugewonnen.

Politik

OLYMPUS DIGITAL CAMERAMenschen. Siebzig oder achtzig Millionen. Menschen. Oder mehr oder weniger. Das spielt keine Rolle. Keine Verbraucher, keine Politiker, keine Staatsbürger, keine Kunden oder Zuschauer. Menschen. Irgendwo auf der Erde. Die Erde ist rund.

Politik. Von Menschen gemacht. Unmenschlich. Unerklärlich und doch erklärbar. Kein Zufall und doch keiner Logik unterworfen. Einfluss haben, mächtig sein. Das ist menschlich. Und unmenschlich. Politik.

Untrennbar sind sie miteinander verknüpft. Die Menschen mit ihrer Politik. Die Politik mit ihren Menschen. Sie lächelt machthungrig. Sie ist bereit, Opfer zu bringen. Große Opfer. Die Verlässlichkeit, die Berechenbarkeit, die Menschlichkeit. Opfer der Politik.

Politik bannt unseren Blick. Lenkt ihn. Gibt ihm Richtung. Auf Gesichter, die um die Welt gehen. Lenkt ihn ab. Erschwindelt unsere Sinne. Raubt unseren Verstand und unsere Zuneigung zu den Menschen, die so viel Gutes bewirken könnte.

Souverän

OLYMPUS DIGITAL CAMERAGlänzend ist es gelaufen. Regie, Dramaturgie, alles in rechtem Maße. Er lehnt sich zurück. Bald ist es vorüber. Er ist einen Schritt weiter, ein souveräner Macher, intelligent, durchsetzungsstark und bei alledem auch noch mit sympathischer Ausstrahlung. Der Rest ist Routine. Links ein Handzeichen: Ja, Herr Redlich? Redlich erhebt sich. „Ich habe erfahren, dass in Ihrem Hause…“

Redlich ist ganz nahe dran. Zu nahe… Jetzt bloß nicht nervös werden. „Entschuldigen Sie, Herr Redlich, aber das ist doch ein ganz alter Hut. Damit müssen wir uns doch heute wohl nicht noch einmal beschäftigen, meine Herren?“ Er wendet sich dem Plenum zu. „Alles frei erfunden. Das haben wir schon hundertmal erklärt. Ich glaube, da sollten wir heute keine Zeit mehr drauf verschwenden!“

Er blickt in die Runde. Leichtes Nicken hier und dort. Zu wenig. „Wir sollten das bilateral besprechen, Herr Redlich, wenn Sie damit einverstanden sind?“ Leises Raunen. Ein Zwischenruf. Nicht zu verstehen. Was hat er gesagt? Auch der Nachbar kann nicht weiterhelfen. Die Lage wird unübersichtlich. Ein Schlussstrich ist überfällig. „Herr Redlich, wir unterhalten uns darüber später“. Redlichs stiller Protest erstirbt.

Zurück zur  Tagesordnung. Er hat noch eine Erfolgsmeldung auf Lager. Sie wird das „Sahnehäubchen“, heute. Doch das Gemurmel hält an, Reden, leise Zwischenrufe. Er ist verdutzt. Gibt es etwas, von dem er nichts weiß? Er lacht kurz auf und bittet die Versammlung, sie möge ihn doch teilhaben lassen, an ihrem Gespräch. „Sie sollten die Anfrage des Herrn Redlich schon beantworten…, das geht schließlich uns alle an“.

Dünnes Eis. Nur kein falsches Wort. „Es gibt da keine Geheimnisse.“ Und erstens ist alles nur Gerede. Und zweitens mag er die Anwesenden nicht mit den Einzelheiten langweilen. Da bräuchte man Stunden. „Sie können sicher sein, dass alles seine Richtigkeit hat.“ Er kommt heute mit einem blauen Auge und dem Auftrag davon, dem Protokoll einen kurzen Bericht beizufügen. Das „Sahnehäubchen“ des letzten Tagesordnungspunkts verkleckert er. Eine Sitzung geht zu Ende. Mit einem gefährlichen Nachlass. Er sinnt auf Rache. Souverän.

06.06.09

Zeitlos

 

 

 

 

 

Getaktet haben wir sie.
Die Zeit.
Sie ist taktlos geblieben.

Verplant haben wir sie.
Die Zeit.
Sie ist ihre eigenen Wege gegangen.

Erlebt haben wir sie.
Die Zeit.
Verstanden haben wir sie nicht.

Sie begleitet uns.
Die Zeit.
Auf unserem Weg ins Morgen.

Wir haben sie nicht.
Die Zeit.
Unser verlässlich letztes Geleit.

Vier Kinder

OLYMPUS DIGITAL CAMERADa sitzen sie nun. Am Tischcarrée, weiß gedeckt, Bier, Wasser, die Teller halb geräumt. Sie erzählen und fragen. Kurze Antworten, längere Erklärungen. Alltägliches wird aufbereitet, so dass es die Geschwister verstehen. Die Runde ist über fünfzig. Jeder von ihnen. Alle leben seit mehr als einem halben Jahrhundert, ein paar schon bedeutend länger. Hier sind sie angekommen. Jeder auf seinem Weg. Aber sie sind hier. Alle. Jeder trägt seine kleine Welt an erlebtem Glück, an Niederlagen und Enttäuschungen in sich. Und mit sich. Und gibt Stückchen davon preis. Der Runde. Wohl portioniert. Gemeinsam aufgewachsen, das wirkt fort, verweist jeden auf seinen Platz, teilt zu wie damals.

Auf ewig verbunden durch genetische Spuren. Zu Persönlichkeiten geformt nach der Laune der Eltern, nach deren Möglichkeiten und Grenzen. Den Rohschliff haben sie sich selbst gegeben. Untereinander, miteinander und gegeneinander. Von klein auf, heranwachsend und später. Sie waren sich „spinnefeind“ und „bester Kumpel“. Sie haben sich gefetzt und verschworen. Viele hundert Male. Wechselnde Koalitionen, wechselnde Ansichten und Einsichten, Turbulenzen des Heranwachsens, tiefe Empfindungen. Die eigenen Wege haben sie auseinandergetrieben. Für immer.

Vier neue Familienstämme. Vier Kinder. Am Tischcarrée.

August 2008

 

Rotlicht

Da schritt voran der Piesepampel, vorbei an leuchtend roter Ampel. Erfasst hat´s ihn mit aller Kraft, aus dieser Welt dahingerafft.

Besser ist´s bei Grün zu starten, wenn  der Querverkehr muss warten.

Verboten

OLYMPUS DIGITAL CAMERAAlles ist erlaubt. Alles ist verboten.

Alles ist erlaubt. Was nicht verboten ist. Alles ist verboten. Was nicht erlaubt ist.

Ich plane ein Geschäft. Geschäfte sind nicht verboten. Also sind sie erlaubt. Soweit sie nicht verboten sind. Geschäfte können schon mal ein bisschen verboten sein. Ist mein Geschäft verboten? Nein. Ist mein Geschäft ein bisschen verboten? Vielleicht. Vielleicht ein bisschen. Ein bisschen verboten.

Ein kleiner Haken hier. Eine Öse dort.

Ich will etwas bewegen. Bewegung führt zu Konflikten. Konflikten mit dem Nachbarn und der Steuer. Mit dem Verkehr und der Natur. Mit Interessen. Interessen bedrohen mein Geschäft. Interessen anderer. Interessen sind auszugleichen. Privat und durch Gesetz. Immer kostet es. Zeit und Geld.

Ein bisschen verboten. Ein bisschen teurer. Ein bisschen viel verboten. Ein bisschen zu teuer. Kosten großer Chancen. Aus für kleine Ideen.

Eine Schwelle meines Geschäfts. Die niemand übertreten wird.

August 2005

Kühlschrank bei Nacht

Verschlossen. Er bleibt zu. Fasten mit System. Schlanke Schönheit wie von selbst.  Wie im Schlaf. Wenn ich nur schlafen könnte. Und fasten. Oder wenigstens schlafen. Ich stehe auf. Lenke mich ab. Bloß nicht an den Schlaf denken. Dann kommt er von allein. Und wandle durch die Räume, blass belichtet, der Laterne sei Dank. Vorbei an der offenen Tür. Zur Küche. Mal kurz hinein. Zum Fenster. Sinnend über Gott und die Welt und die Nachbarn. Alle in friedlichem Schlummer. Bis auf einen. Der Magen knurrt. Kleines Glück zum Greifen nah. Verschlossen. Sicher? Nur zur Kontrolle. Die Tür schwingt auf. Ein Paradies erstrahlt. Verbotene Früchte. Verdammt noch mal.

Einspurig

OLYMPUS DIGITAL CAMERAWer auf unseren Straßen radelt, sollte seine Schutzengel mobilisieren.  Er wird sie brauchen. Wenn sich ein „zweispuriges“ Fahrzeug von hinten nähert und eines von vorne. Dann wird´s eng. Vorbeifahren klappt nicht. Dafür ist er zu schnell. Hinterher fahren? Inakzeptabel. Überholen liegt in der Luft. Aber wie? Aber wann? Noch vor dem Gegenverkehr oder danach? Oder vielleicht in ihn hinein? Dreispurig, belegt von zwei Zweispurigen und einem Einspurigen? Bei der ersten Variante wird´s vorne knapp. Für die Zweispurigen. Bei der zweiten hinten. Für den Einspurigen. Bei der dritten für alle.

Irreparabel

OLYMPUS DIGITAL CAMERADesign muss es sein. Alles andere ist Kosmetik. Hier der Kitt, dort die Farbe. Es wird geschnibbelt, getüncht und geflickt. Ein aussichtsloses Unterfangen.

Er bleibt zweite Wahl. Ein Mensch ist nur ein Mensch. Und der hat Macken. Außen und innen. Nie perfekt. Verletzlich und verletzend. Strebend ohne Ziel. Glücklos auf dem Wege zum Glück. Rätselnd. Sich selbst und anderen ein Rätsel. Er hat zu viele Väter, hat kein Profil, ist selten richtig schlau und selten richtig schön. Perfektion: Fehlanzeige. Auf höchstem Niveau unvollkommen. Irreparabel.

Klare Botschaft: Radikal aufräumen. Altes Erbgut weicht neuem Design. Perfekte Perfektion. Schön und schlau. Schön schlau. Vollkommen. Bald ist´s so weit. Das neue Modell ist da. Die Kosmetik hat ausgedient. Erste Wahl braucht keine Farbe.

Eigenschaften wie wir sie wünschen. Design höchster Vollendung. Eine Gestalt, wie sie uns gefällt. Ein heller Geist. Makellos. Unser Werk. Irreparabel.

Respekt

OLYMPUS DIGITAL CAMERASie schuften in den Gräben. Im Lärm ihrer Maschinen, im Staub, den ihre Bohrhämmer aus dem Stein lösen. Verschmutzt und verschwitzt. Ausgeliefert dem Pöbel, der sich über sie erhebt. Sie geben sich, ihre ganze Kraft und ihre ganze Zeit. Weil der Lohn gering ist. Zum Leben und Überleben. Für sich und ihre Familien. So lange sie können. Für das bisschen Luxus. Abgeordnet, hingekarrt und angewiesen. Registriert und verwaltet. Gesichtslose Nummern für die Personalverwalter. Ausgebucht, wenn ihre Kraft nachlässt. Manövriermasse für ein Geschäft, das andere machen.  Respekt. Bitte.

Ungeboren

Die Frau gehört an den Ofen. Den Hochofen. Oder zumindest in die Produktion. Oder ins Büro, in den Handel, die Altenpflege oder Lehre. Jedenfalls geht es nicht mehr ohne sie. Und nicht ohne die, wer hätte das gedacht, die „älteren Arbeitnehmer“.  Der Demographie sei Dank, konnte dieser  unermessliche Schatz der Älteren, nicht nur an die Luft, sondern nun auch ans Licht befördert werden. Die Erfahrung zählt. Haben wir es nicht immer schon geahnt? Und dann gibt es noch die Jungen mit den schlechten Manieren, den schmutzigen Fingernägeln, der nachlässigen Sprache und Lücken auf allen Gebieten schulischer Leistungen. Wir fangen sie ein. Wir fangen sie auf. Wir geben ihnen ein Zuhause in unserer Wirtschaft, lassen sie in unsere Gesellschaft einsteigen. Wir brauchen sie. Der Demographie sei Dank.

Sorgt euch um den Nachwuchs. Wir sagen es der Industrie, der Spedition, dem Handel und dem Hotelier. Wir sagen es allen. Allen, die sich um die Besten balgen müssen und bald auch um die Schlechten. Wir empfehlen ihnen, ihr Image zu polieren. Wir raten, zu qualifizieren. Wir raten und raten. Und raten noch heute, wo denn nur der Nachwuchs bleibt. Er bleibt ungeboren.

Schmeicheleien

Schmeicheln ist billig. Und der Geist wird schwach. Wir denken. Wir handeln. Wir wissen, was wir tun. Wir handeln nach der Vernunft. Nach unserer Vernunft. Nach dem, was uns vernünftig erscheint. Wir zweifeln nicht, das Richtige zu tun. Und doch wissen wir um unsere Grenzen und um unsere Möglichkeiten. Eitel sind wir nicht. Vielleicht ein bisschen. Wie alle. Bestimmt nicht mehr. Und doch bestimmt zu viel, als dass die billige Methode nicht auch bei uns auf fruchtbaren Boden fiele. Geschmeichelter Geist schwächelt eben ein bisschen.

Keine Sorge

Wir fliegen einen strammen Kurs. Ins Ungewisse. Doch keine Panik. Nie war die Zukunft gewisser als ungewiss. Nie haben sich die Menschen vor dem Ungewissen unbekümmert gezeigt. Nie waren sie sorgenlos. Deshalb machen wir uns keine Sorgen darüber, dass wir sorgenvoll in die Zukunft sehen. Das ist normal. Nicht ungewöhnlich. Es ging trotzdem immer weiter. Auf wundersame Weise. Mitunter auf grausame. Was wird, wenn unsere neuen digitalen Lebensadern vergreisen, den Dienst versagen? Don´t worry. Halb so schlimm, die Spezialisten werden es richten. Wenn sie denn da sind. Wo sind sie denn, die, die noch verstehen, was wir uns in Jahrzehnten digital zusammengestrickt haben? Wo? Sie ist ganz normal, unsere Zukunftssorge. Sorgen wir uns also nicht.

Ergebenst

Wir haben sie geschaffen. Kleine und große Helferlein. Digitale Segnungen. Blitzschnelle Prozesse. Unbegreiflich schnell und präzise. Wunderwerke.  Sie helfen uns, sie erfreuen und beschäftigen uns. Sie lenken uns. Und sie geben den Takt an. Moderne Zeiten. Wir verneigen und ergeben uns. Ergebenst.

Ich

OLYMPUS DIGITAL CAMERAIch bin gefragt. Mein Wort wiegt. Mein Bild in den Medien. Mein Name: bekannt. Ich bin wer. Wer auch immer. Was auch immer. Wo auch immer. Wer hat da noch Fragen? Wenn es doch so gut tut?

Sonne bis zum Umfallen

Sonne bis zum Umfallen. Hitze bis zum Unerträglichen. Hell war´s, schwül wurde es. Verschwitzt und abgekämpft nach geruhsamen Tagen des Nichttuns. Das war unser Urlaubs- Sommer. Kurz und nicht ganz schmerzlos, nach einem schier ewig währenden Wetterauftakt aus klammer Kälte, die uns tief in die Knochen gekrochen war.

Und heute? Regen. Endlich. Ein Schauer treibt den nächsten. Grau verhangen ist der Himmel, düster nach all den gleißend hellen Tagen. Der Herbst ist noch fern und schickt doch erste Vorboten zu uns, Botschafter der Zeit des Abwartens, der geduldigen Sehnsucht nach ein bisschen mehr Licht, nach Wärme. Und Sonne bis zum Umfallen.

Welt ohne Geheimnisse

Ein Geheimnis ist Wissen, das ein Mensch nicht preisgibt oder aus anderen Gründen anderen nicht zugänglich ist. Jeder hat so seine kleinen Geheimnisse. Sind sie Basis fürs Geschäft, sind sie Geschäftsgeheimnisse. Damit sind sie wertvoll und stehen unter dem Schutz des Gesetzes. Wer Geheimnisse verletzt, macht sich ersatzpflichtig und kann bestraft werden.  So unsere Gesetze, die unserem Zusammenleben und unserem wirtschaftlichen Handeln Grenzen setzen. Darauf haben wir uns eingerichtet. Darauf haben wir in großem Maße vertraut. Darauf haben wir unsere Betriebe eingestellt. Das ist bisher Teil unserer Geschäftsgrundlagen und Teil unseres wirtschaftlichen Erfolges in der Welt.

Jetzt, da wir wissen, dass es heute möglich und wohl auch Praxis ist, auf unsere und die Daten unserer technischen Geheimnisträger elektronisch zuzugreifen und sie auszulesen, gibt es zwei Handlungsmöglichkeiten: Wir können die Zugriffe auf unser Geheimes zulassen oder uns dagegen zur Wehr setzen.

Wir haben uns als erstes gewehrt, haben Verantwortliche und Schuldige gesucht, bis zu der Einsicht, dass Widerstand zwecklos erscheint angesichts der Erwartung, dass nicht nur die Amerikaner, die Briten und Franzosen, sondern auch die Russen, die Chinesen, beliebig viele andere Nationen und selbst Menschen und Einrichtungen in unserem Lande als mögliche Datenräuber verdächtig und womöglich unaufhaltsam tätig sind.  Aber ist es sinnvoll, sich zu wehren? Wenn jede Mühe vergebens sein könnte? Weil jede brauchbare Abwehrmaßnahme große Summen verschlingt und lückenhaft bleibt? Viel Aufwand um Nichts, wenn doch nichts zu retten ist. Also werden wir uns darauf beschränken, wachsamer zu sein, den Datentransport auf jeden Fall dort einzudämmen, wo er jenseits möglicher Spionagetätigkeit alltäglich stattfindet: Über offen zugängliche Computer und Netzwerke, über USB-Sticks und sträflichen Leichtsinn aller Beschäftigten.

Wir haben uns gewehrt, uns aber doch der Übermacht technischer und politischer Übergriffe gebeugt.  Wir leisten noch Widerstand und richten uns gleichzeitig auf die lästigen Eindringlinge in unsere geheimen Welten ein. Gezielte Desinformation, Verwirrung der ungebetenen Gäste, organisierte Datenbits, die mit ihnen Schabernack spielen, geben unserer Fantasie  reichlich Stoff für Abwehrstrategien und neue Produkte. Gegenattacken mit zweifelhafter Wirkung.  Das Problem bleibt auf dem Tisch.

Deshalb gehen wir weiter: Was wird, wenn am Ende Betriebsgeheimnisse die Ausnahme, Datenzugriffe und Datensammlungen durch Eindringlinge aber zur Regel werden?  Wenn unsere Kunden und unsere Angebote unseren schärfsten Konkurrenten mit bester Empfehlung präsentiert werden? Werden wir dann noch forschen und entwickeln? Wenn nichts mehr geheim zu halten ist?  Wollen wir dann ebenfalls den gesellschaftlichen Konsens kündigen, Regeln brechen, die unter ehrenhaften Kaufleuten hoch gehalten werden? In Zeiten, in denen die Wirtschaft immer wieder beteuern soll, dass sie alle gesetzlichen Vorschriften in ihrer ganzen Fülle und ihren versteckten Tücken gewissenhaft einhalten wird (Compliance)? Wenn doch offenkundig der Staat, unsere eigene Geschäftsgrundlage in so bemerkenswerter Weise fremden Geheimdiensten zu opfern scheint?

Sollen wir mehr Kontrolle der Datensammler fordern? Kontrolle darüber, dass die Daten eben nicht der Konkurrenz in die Hände fallen? Oder bedeutet gerade die Kontrolle nicht eine eigene Gefahr, dass alles das, was gesammelt wird oder wurde, wegen der notwendigen Beteiligung der Öffentlichkeit erst recht ans Tageslicht befördert wird?

Sollen wir jedem jeden Einbruch in fremde Datenwelten erlauben? Eine Welt ohne Geheimnisse?  Wenn irgendwann jeder von jedem alles wüsste oder wissen könnte? In der es kein Wissen gäbe, das gegen Geld eingetauscht werden könnte? Wenn Untaten ebenso wie Großartiges stets öffentlich wären? Ohne Versteckspielen? Eine neue Gesellschaft. Unsere Fantasie reicht nicht aus, sich auszumalen, was die Zukunft noch bringen könnte. Freuen wir uns drauf.

Das Leben bleibt spannend. Doch in der Zwischenzeit halten wir uns besser an das, was uns vertraut und Grundlage unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens ist: An die Gesetze, an den Datenschutz sowie an die Grundsätze des ehrbaren Kaufmanns. Es ist aber nicht zu viel, wenn wir auch unser Gemeinwesen, unseren Staat in die Verantwortung ziehen, uns wirksamer als bisher vor dem Informationshunger staatlicher Stellen im In- und Ausland zu schützen. Die Welt wird sich dann ohnehin auf ihre Weise weiter drehen.

Geschmeidiger Glanz

0193KleinJa, wir sind schon gut. Tausend Aufgaben sind uns anvertraut, stets mehr als zuviel. Wir erledigen sie geräuschlos. Launisch und leise, bedrückt und erheitert laden wir den Gast des Werktags in unser Leben ein, den undankbaren Gesellen. Für ein karges Salär nimmt er uns gefangen, tage-, wochen-, jahrelang, bis in den Abend, unseren Lebensabend. Wir ertragen seinen Hochmut, seine unmäßigen Ansprüche und seinen ungerechten, verächtlichen Spott und bleiben doch dankbar für die Gelegenheit, ihn beherbergen zu dürfen.

Ja, wir sind gut. Tausend Aufgaben nur für uns, von denen niemand etwas weiß. Tausend Aufgaben zuviel. Keine unter ihnen, die diesen geschmeidigen Glanz entfalten könnte, für den die Welt doch so empfänglich ist.

Streng vertraulich

OLYMPUS DIGITAL CAMERAEr erfuhr davon im Dienst. Als Behördenleiter. Mittags ging er in seinen Club. Dort gab er die Botschaft weiter. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Unter Freunden. Und stieg in deren Achtung. Schöne Freunde.

Made in Germany

OLYMPUS DIGITAL CAMERAMade in Germany. Ein kleiner Schriftzug, nicht zu übersehen. Appell an das Vertrauen, Vertrauen in geschätzte Werte, in Gründlichkeit, Verlässlichkeit und Qualität. Aus der von den Briten Ende des 19. Jahrhunderts zum Schutz eigener Produkte angeordneten Kennzeichnung der Waren aus deutscher Produktion ist eine Marke geworden. Sie zeigt, was gut und uns teuer ist. „Made in Germany“ verschafft uns Atempausen im gnadenlosen Preiswettbewerb und ist uns deshalb Ansporn und Verpflichtung zugleich.  Jeder Hersteller entscheidet, ob er seine Ware so kennzeichnen will. Grenzen setzt ihm nur das Gebot lauteren Wettbewerbs. Seine Angaben dürfen keinen falschen Eindruck über die tatsächlichen Verhältnisse erwecken und den Abnehmer täuschen. In der Praxis hat sich diese Regelung bewährt. Was aber hat die Europäische Union in Brüssel vor? Droht unserem Markenzeichen das Aus? Gibt es Grund zur Aufregung?

Die Diskussion um die Marke „Made in Germany“ schwelt schon seit Jahren. Sie hat zwei Wurzeln:

Zum einen gibt es Bestrebungen der Europäischen Kommission, bestimmte Branchen zu verpflichten, ihre aus Drittländern bezogenen Produkte mit Herkunftsangaben zu versehen (KOM(2005), 661).  Neben der Angabe eines Drittlandes als Ursprungsort hätte die Marke „Made in Germany“ häufig keinen Platz mehr.  In der Praxis sind solche Überschneidungen zu erwarten, weil die zollrechtliche Beurteilung des Herstellortes nicht deckungsgleich ist mit den Anforderungen, die das Wettbewerbsrecht an die Marke „Made in Germany“, stellt.  Mit guten Gründen haben sich bedeutende Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft, unter ihnen der Deutsche Industrie- und Handelskammertag, gegen das Vorhaben ausgesprochen und zwischenzeitlich erreicht, dass die Kommission ihren Vorschlag Mitte Januar 2013 zurückgezogen hat.  Seit Februar steht das Vorhaben aber erneut auf der Tagesordnung, diesmal unter dem Gesichtspunkt des Verbraucherschutzes (Vorschlags für eine Verordnung über die Sicherheit von Verbraucherprodukten – KOM (2013), 78 vom 13.02.2013).  Damit ist der Vorschlag wieder aktuell. Die Kommission hat dies soeben bestätigt. Ihrer Erklärung vom 9. August zufolge soll der neue Zollkodex noch vor Jahresende in Kraft treten.

Zum anderen arbeitet die Kommission seit einigen Jahren an der Überarbeitung der Durchführungsverordnung zum Zollkodex. Die neuen Bestimmungen könnten manche Ware, die heute deutschen Ursprungs ist, von vornherein als Auslandsware definieren. Für die Werbeaussage: „Made in Germany“ wäre das keine gute Basis.

Gegen alle Befürchtungen hat die Kommission in Erwiderung auf die vom DIHK vor wenigen Tagen geäußerte Kritik angegeben, die Ursprungsregelung des Zollkodex selbst nicht antasten zu wollen. Der relative Preis des Aufwands und der Materialien werde nicht die Herkunft bestimmen. Maßgebend bleibe, so die Kommission, „wo ein Produkt die letzte erhebliche Änderung erfahren hat.“ Der Zollkodex beinhaltet in Artikel 24 eine Generalklausel, nach der das Ursprungsland bestimmt wird (siehe unten). Sie knüpft an den Ort der letzten wesentlichen Be- und Verarbeitung der Ware an. Diese Generalklausel wirft aber in der Praxis viele Fragen auf. Deshalb gibt es dazu die Zollkodex-Durchführungsverordnung. Und genau diese wird derzeit überarbeitet.  Von ihr hängt entscheidend ab, nach welchen konkreten Kriterien festgestellt wird, welchem Land ein Produkt zollrechtlich zugeordnet wird.

Schon heute gibt es für bestimmte Produktkategorien detaillierte Regelungen dazu, wie das Ursprungsland zu ermitteln ist. Daneben gibt es aber einen weiten Bereich, der von solchen Detailvorgaben noch nicht erfasst wird. Für ihn gilt die allgemeine Ursprungsregel des Artikels 24. Diese hat sich in der Praxis bewährt. Sie ermöglicht eine weitgehend unbürokratische Bescheinigung des Warenursprungs. Der Kommission der EU reicht dies jedoch nicht. Sie möchte mit Blick auf Anti-Dumping-Zölle für Importe die Feststellung des Warenursprungs viel detaillierter regeln als bisher. Dies würde auch den Warenursprung unserer Exportgüter mit erfassen.

Zurzeit liegen diese Pläne nach heftigen Protesten aus der Wirtschaft noch auf Eis.  Die Einführung einer verpflichtenden Angabe zum Warenursprung könnte sie jedoch rasch wieder auf die Tagesordnung setzen. Sie würde die Diskussion um konkretere Ursprungsregeln neu entfachen. Dann erhält der Warenursprung eine neue Aufmerksamkeit. Dann wird es um die Konkretisierung der Ursprungsregel von Artikel 24 des Zollkodex gehen. Dann wird die Diskussion über Listenregeln fortgesetzt werden. Am Ende wird das von der Kommission geplante, bedeutend kompliziertere Ursprungsrecht für den gesamten Warenaustausch mit Ländern außerhalb der EU stehen. Denn niemand kann ernsthaft erwarten, dass es für Produkte, bei denen der Verbraucherschutz eine besondere Rolle spielt und für andere Güter unterschiedliche Ursprungsregeln geben könnte. Besonders belastet wären die Unternehmen, die keine Massenware auf den Markt bringen. Das sind vor allen Dingen die Nischenanbieter, die ihre hoch komplexen Produkte in zahlreiche Auslandsmärkte beliefern, allen voran Unternehmen des Maschinen- und Anlagenbaus.

Was die Verwendung der Herkunftsbezeichnung “Made in Germany” angeht, ist zunächst eine gewisse Entwarnung angebracht: Sie wird nicht abgeschafft. Auch morgen darf es noch Waren mit dem Qualitätssiegel “Made in Germany” geben. Aber: es werden weniger sein als heute. Denn nicht alles,  was heute so deklariert wird, ist auch tatsächlich in Deutschland hergestellt worden. Entscheidend ist die Definition der Ursprungseigenschaften. Wird das Ursprungsrecht detaillierter geregelt, werden viele unserer Güter, die heute zu Recht das Gütesiegel tragen, nicht mehr „Made in Germany“ sein. Ein Wettbewerbsvorteil ginge verloren. Eine verpflichtende Angabe des Herstellungslandes würde dazu den Weg bereiten. Auch deshalb ist sie abzulehnen. Und es besteht noch Hoffnung, dass das Europäische Parlament diese Auffassung teilt.

Der Warenursprung ist in Artikel 24 des  Zollkodex bei mehreren beteiligten Ländern wie folgt definiert:

„Eine Ware, an deren Herstellung zwei oder mehrere Länder beteiligt waren, ist Ursprungsware des Landes, in dem sie der letzten wesentlichen und wirtschaftlich gerechtfertigten Be- oder Verarbeitung unterzogen worden ist, die in einem dazu eingerichteten Unternehmen vorgenommen worden ist und zur Herstellung eines neuen Erzeugnisses geführt hat oder eine bedeutende Herstellungsstufe darstellt.“

Volltreffer

Höflichkeit, die Kleiderordnung und die Spielregeln guter Manieren bauen uns einen Schutzzaun, ein Frühwarnsystem vor Übertritten, vor Überraschungen. So können wir unbesorgt in die Welt hinausgehen, können Freunde treffen und Geschäftspartner. Wir haben unseren Frieden.

Wer auffällt, fällt auf und bei uns durch, kommt in die Quarantäne-Station unserer Gesellschaft, bleibt unter Beobachtung.  Bis er gleich ist. Oder angepasst. Oder äußerlich unverdächtig. Er bleibt dennoch unter unserer verschwiegenen Kontrolle.  Sozusagen unter Sicherungsbeobachtung. Denn wir müssen mit allem rechnen. Auch mit dem Schlimmsten.

Aus geheimer, jedoch verlässlicher, Quelle wissen wir um die schlimmsten Spekulationen. Wir dürfen nicht drüber reden. Das versteht sich. Ehrensache. Und doch wissen wir, dass unser Unbehagen nicht unbegründet war. Das hätte ins Auge gehen können. Selbstverständlich müssen wir Freunde warnen. Auch wenn wir den letzten Beweis noch nicht haben können. Wie denn auch?

Auffällig schweigsam in einer bemerkenswerten dunklen Ecke. Volltreffer. Wusst´ ich´s doch. Da ist was faul. Sonst stände er nicht so abseits. Von uns, der feinen Gesellschaft. Fein und wachsam. Ja, das sind wir. Dazu stehen wir. Zusammen. Alle.

Im Juli 2013

Einfaches

OLYMPUS DIGITAL CAMERAEinfaches ist nicht einfach an den Mann oder die Frau zu bringen. Es ist zu einfach. Doch dann beginnt es, seine Geschichte zu erzählen. Authentisch, persönlich, einfach mitreißend echt. Wie viel Leben doch in ihm steckt. Dieses anmutige Wesen, dieses Einfache. Übersichtlich, schön, gut, nah. Wer wäre da nicht bereit, ein paar Euro springen zu lassen? Faszinierend, gut und teuer. Packen Sie´s mir bitte in Folie ein. Es soll ganz einfach ein Geschenk sein. Ein einfaches.

Im Juli 2013

Wabenbeton

Das Eleganteste, was die Zeit zu bieten hatte. Die typische Wabenstruktur der Fassade war Ausdruck unserer Modernität, des Zeitgeistes, des Aufbruchs in eine bessere Welt.  Alles unter einem Dach anzubieten, war Ausdruck modernen Handels. Und wir stimmten freudig zu, opferten bereitwillig die wertvollsten Plätze unserer Städte. Der Zukunft eine Chance.

Es war eine nachhaltige Investition. Die Waben trotzen noch heute Wind und Wetter, sind nur ein bisschen grau geworden, ein bisschen unansehnlich und nicht ganz frei von  bröckelnden Elementen. Halb so schlimm, ein feines Netz beschützt den ahnungsvollen Passanten vor Ungemach. Während nebenan unser neues Paradies mit neuem Glanz und überwältigender Größe alles anlockt, was in der Handelswelt Rang und Namen hat, bleibt unser Wabenbeton in seinem Innern seltsam dunkel, kalt und leer. Die Fenster sind verhangen, der Glanz der frühen Jahre ist erloschen. Eine graue Staubschicht bedeckt die einst so verheißungsvollen Auslagen. Seit Jahren. Unter dem Dach der tristen Betonhülle findet unser Warenreichtum einfach keinen Platz mehr. Und etwas anderes auch nicht. Dafür wurde der Koloss nicht gebaut, ist er nicht geeignet. Gebaut als Warenhaus, liegt er der Stadt nun schwer im Magen. Die Zeit läuft eben weiter.

Wir shoppen jetzt unter einem neuen Dach, dem ebenso unerschrockenen, wie zahlungskräftigen Investor sei Dank. Natürlich ist es nicht so wie früher. Eher so: Viel größer, viel schöner, nach einem ganz anderen Konzept, mit einer ganz anderen Auswahl und flexibel bis zum Umfallen. Eben ganz anders als früher. Ein Warenhaus ist gegen unser Einkaufszentrum, na sagen wir mal, eine „Hundehütte“ (die Hunde mögen´s mir verzeihen). So baute man eben damals.

Heute baut man anders. Zukunftsweisend. Und: Ein großes Haus gehört mitten in die City, ins Herz der Stadt. Schließlich sind die Kunden praktisch schon da und außerdem und an erster Stelle soll ja ein lebendiger urbaner Raum entstehen, mit einer großen Vielfalt an Waren- und Dienstleistungen, einladend, freundlich, gut zu erreichen und richtig attraktiv. Ja, die Handelsstruktur im Umfeld verändert sich. Das zeigt unsere Erfahrung. Erwiesen ist aber auch, dass die Ansiedlung unseres Zentrums zahllose Investitionen auslöst. Plötzlich werden auch diejenigen aktiv, die meinten, in wenig attraktiven Räumen dösend auf Kunden warten zu können. Neuer Wettbewerb führt zu neuen Aktivitäten. Und so weiter.

Ein großer Schritt in die Zukunft. Und doch beschleicht uns eine böse Ahnung, dass unser neuer Tempel einmal gottlos werden könnte, aus der Mode kommen, abgeschrieben, überflüssig und zu teuer werden könnte.  Ja, große Dinge zeigen große Wirkung. Oder sie bedeuten großen Aufwand. Mitunter zu großen. Nicht heute, sondern morgen. Wenn die Erträge nicht mehr die Kosten decken, wenn der Leerstand günstiger als ein Abriss wird? Wenn die Dividenden längst geflossen sind, wer  befreit dann die Herzen unserer Städte von Häusern, neben denen Warenhäuser das Format einer Hundehütte haben?  Sehen wir uns wirklich in der Verpflichtung, heute die Bausünden von morgen zu begehen, ohne die unsere Nachkommen nicht mit dem Fingerzeig auf unsere Bausünden davon ablenken, dass sie just in dem Moment wiederum ihren Nachfolgern in gleicher Weise Unverdauliches auftischen, an denen noch Generationen zu knabbern haben?

Jede Betriebsform und jede Investition ist willkommen. Der Wettbewerb wird´s richten.  Niemand darf aber aus der Verantwortung für sein Handeln entlassen werden. Wer mit dem Versprechen, die Innenstadt zu beleben, antritt und wem das Herz der Stadt anvertraut wird, der muss dafür sorgen, dass es auch morgen noch schlägt. Wann denn das, mag man fragen, und wie ist das überhaupt möglich? Heute, wann sonst, ist die einzige Antwort. Denn allein heute fließen die Erträge, aus denen der Abriss und die Beseitigung des Objektes überhaupt finanziert werden können, die ansonsten der kommenden Generation zur Last fallen.

Morgen, wenn die Erträge einbrechen, und ein neues Konzept unsere Gesellschaft an anderer Stelle fesselt, ist es zu spät. Wir sind es unseren Nachkommen schuldig, über den Tag hinaus zu denken und den „Verursacher“ heranzuziehen, so lange er greifbar ist. Am besten gleich mit der Baugenehmigung. Das sollte rechtlich möglich sein oder werden. Nach Finanzierungsmodellen, in die wir vielleicht noch etwas Phantasie stecken müssen, so wir nicht auf die bereitwillige Hilfe der Investoren vertrauen dürfen. Sie werden ihre Vorhaben anders rechnen müssen als in der Vergangenheit. Sie werden unsere Nachkommen in ihre Kalkulation einbeziehen müssen, eine Generation, an die wir hohe Erwartungen stellen. Unsere Kinder haben Lasten genug zu schultern. Unsere Sünden, die Sünden der Vergangenheit. Eine weitere sollten wir ihnen ersparen: Wabenbeton der modernen Art.

Juli 2013

Zu grell

OLYMPUS DIGITAL CAMERAGrelles Licht. Das heißt nichts Gutes. „Die Sonne scheint falsch“, so hieß das damals. Danach wurde es todsicher ungemütlich. Regen, Wind, Kälte. Ja, „schlechtes Wetter“ hielt Einzug, vergällte uns den Tag. Aber Blendwerk täuscht uns heute nicht mehr. Wir wissen Bescheid, geben uns keinen falschen Erwartungen hin. Haben´s einfach schon zu oft erlebt. Keine Chance.

Ein unerwarteter Anruf. Eine Auszeichnung erwartet mich. Mit Urkunde und Trophäe. Und Applaus. Gerne, ja, ich stehe gerne zur Verfügung. Und darf mich noch herzlich bedanken. Hochstimmung pur. Ich wusste es doch immer: Irgendwann würde mein Einsatz seine verdiente Anerkennung erfahren.

Feierlich geht´s zu. Sogar die Prominenz ist da. Oder zumindest vertreten. Ja, komplett vertreten. Schöne Worte aus der Feder versierter Redenschreiber. Bewundernswert die Routine. Ich bin ergriffen. Dankbarkeit steigt in mir auf. So nette Worte, so klug und so wohltuend. Darauf einen kühlen Sekt. Hände schütteln. Glückwunsch und so. Die vertretene Prominenz verabschiedet sich. Tiefes Bedauern, andere Termine, volles Verständnis. Der Raum leert sich. Ich umschließe meine Urkunde und die Trophäe in meiner kleinen Seligkeit ganz fest.

Und das alles meinetwegen. Doch, man muss es auch so sehen: Die Redner haben glänzend dagestanden, vor ihrem Publikum. Haben den richtigen Ton getroffen, das Herz. Gut gemacht. Bravo. Feine Menschen. Große Persönlichkeiten.

Ich raffe meine Sachen zusammen. Draußen hat der Wind zugenommen, treibt dunkle Wolken durch die Stadt.  Ein eisiger Schauer läuft mir über den Rücken. Ich bin wieder hellwach. Das Licht. Ich Idiot. Es war einfach zu grell.

Juli 2013

Mancher Mann

OLYMPUS DIGITAL CAMERAWenn mancher Mann wüsste, wer mancher Mann wär´, 
gäb´ mancher Mann manchem Mann weniger Ehr´. Er weiß es aber nicht und wird´s wohl nie wissen. Und wenn er´s wüsste, er würd´s nicht glauben. Und was er nicht glaubt, stimmt nicht.  Ganz bestimmt nicht. Das wüsste er.

21. Juli 2013

Denk mal

0010KleinDer ist einfach nur genial gut. Modern, durchsetzungsstark, eloquent und schon gar nicht von gestern. Gerne geben wir. Wird schon richtig sein. Denn andere tun´s ja auch. Große Namen. Wir sind in feiner Gesellschaft. Beispielhaft. Ein Beispiel für Deutschland. Ein Beispiel für die Welt. Zweifellos. Mit unserem Geld wird Gutes getan. Für die Schwachen und natürlich für uns. Aber das ist nebensächlich.  Der Erfolg wird sichtbar, er wächst aus dem Boden. Bald schon wird es fertig sein.  Unser Haus. Unser Denkmal, ein Zeichen des Gemeinsinns. Wir glauben ganz, ganz fest dran. Und an ihn. Augen zu. Der ist einfach nur genial gut.

21. Juli 2013

Viele bunte Alte

Wir werden weniger, bunter und älter. Auf der Kundenseite, wie auch beim Personal. Das ist die so gar nicht froh gemeinte Botschaft an unsere Handelstreibenden. Werden aber nun die Jungen älter oder die Alten bunter? Oder vielleicht sogar die Alten jünger?  Und haben wir zukünftig weniger Junge und mehr junge, bunte Alte?

Ja, wir brauchen schon ein paar kluge Köpfe, um Ordnung in unsere Gedanken zu bringen. Denn das Verwirrspiel zieht weitere Kreise: Gehandelt wird auf allen Kanälen: Im Fachhandel, im Markenstore, in Filialen, auf Märkten und Messen und schließlich auch im Wege des Versandhandels, per Katalog, Inserat und Internet. Und auch dies ist nur die eine Seite, nämlich die des Verkäufers. Was passiert beim Käufer? Wird er nur alt und bunt, oder „tickt“ er morgen auch anders? Und wo steckt er und wie können wir ihn zum Kauf verführen?

Was wollen wir künftig überhaupt für ihn tun? Ihm Waren über die Theke reichen oder als „Service“ deklariert dienstbeflissen zustellen? Ist dieses Geschäft nicht längst in fester Hand des komfortablen Online-Handels und seiner „göttlichen“ Boten, die auf halsbrecherischen Kleintransporter-Touren millionenfach in Kartonagen verpackte Luft zu den entlegensten Ortschaften karren, um sie mit der bestellten Ware beim Nachbarn des todsicher gerade abwesenden Bestellers abzuliefern? In rekordverdächtiger Zeit? Bisweilen selbst am Rande des finanziellen Ruins?

Was zählt unser Rat als gut informierter Händler in einer Zeit, in der der Kunde mit einem Wissens-Overkill das Geschäft betritt, darauf lauernd, den erstbesten Fachberater mit soeben im Online-Shop angelesenem Spezialwissen an die Wand zu spielen?  Spezialwissen zu dem von ihm begehrten Produkt? Einem der Millionen Produkte des Gesamtsortiments? Armer Fachberater. Du bist von vornherein chancenlos. Oder richtig gut. Bis der Kunde zielsicher eine App(lication) seines Smart-Phones aktiviert und neue Fakten präsentiert. Einmal tief durchatmen bitte. Ja, das stand nicht auf dem Stundenplan unserer Ausbildung, die nun auch schon ein paar Jahre zurück liegt. Und doch sprechen wir hier von einer vergleichsweise günstigen Ausgangslage: Immerhin hat ja der Kunde den Weg in den Handel vor Ort gefunden und nicht gleich im Internet bestellt. Hier hat der Händler noch die Möglichkeit, ihm das gute Gefühl zu vermitteln, dass das eine sehr gute Entscheidung sei.

Wie sieht es aber mit den Kunden aus, die kein Vertrauen zum Händler aufbauen können, weil sie ihn ja gar nicht mehr kennen oder ihn nie kennen gelernt haben? Was wirkt bei dem Kunden, an dem alle Versuche, mit Emotionen Bindungen aufzubauen, scheitern? Was ist mit den Käufern, die sich offline als komplette Versager  herausstellen? Klar, es liegt nahe, diese online, also auf ihrer eigenen Wellenlänge, anzusprechen. Shop-Betreiber wissen aber nur zu gut, dass der Ruin schneller eintreten kann, als erwartet. Spätestens jetzt kennzeichnet geräuschvolle Ratlosigkeit die mit klugen Ratschlägen glänzende Beratergilde. Das darf man ihr nicht einmal verübeln, weil sie ja berät und nicht Handel treibt. Guter Rat wird an dieser Stelle schon fast zu teuer.

Was bleibt: Wir  müssen wohl bescheiden sein: Die Kosten im Griff halten, die Entwicklungen genau beobachten, den Puls des Kunden spüren, unser Personal mit ganz anderen Augen sehen und in der Dienstleistung Perfektion anstreben. Flüchtigen Empfehlungen nachzurennen, könnte die Kraft kosten, die nur durch Ruhe zu gewinnen ist.

Die Strukturverschiebungen im Handel sind offenkundig. Und wir alle werden überrascht sein, welch unerwartet neue Chancen sich in dieser Umbruchphase auftun werden. Nutzen werden sie diejenigen, die sich nicht an falscher Stelle haben aus der Reserve locken lassen. Was passiert etwa, wenn die Differenzierungsmöglichkeiten im Internet erlahmen, wenn eine perfekter Shop und ein perfekter Service längst Standard bei Online-Anbietern sind? Was passiert, wenn nur noch der Preis zählt? Wenn ein Großteil der aufstrebenden Online-Adressen aus dem Markt ausgeschieden ist? Wenn „Platzhirsche“ das Geschäft dominieren? Dann beginnt der Handel der nächsten Generation. Warten wir´s aktiv ab. Gutes Personal, Kapital und die Grundtugenden eines guten Händlers sollten sich dann auszahlen.

Drehschwindel

0286KleinNasskalter Schnee legt sich auf das welke Laub des verblichenen Sommers. Das kurze spätherbstliche Aufleuchten warmer, tiefer Farben ist vorbei. Fahles Licht vermag nicht mehr, als die langen Nächte ein wenig aufzuhellen. Das Leben hat sich zurückgezogen, es hält inne, zieht Bilanz. Und im Verborgenen, in jeder Krume des Bodens, richtet es sich auf das Warten ein, das besinnungsvolle Warten auf die Chance, neu zu erblühen. Unbelastet vom Ballast des Jahres, den es abgeworfen hat und der nun in den Furchen und Rändern verrottet.

Und wir? Wir machen weiter wie bisher. Nein. Der Winter schreckt uns nicht, ihn haben wir längst im Griff.  Wir heizen aus unserer Erde Öl, verfeuern unsere Schätze und haben es warm. Nein, die Jahreszeit, die macht uns keine Sorgen.

Und ansonsten, was könnte denn sonst noch problematisch sein? Naja, die Politik ist schlecht und ungerecht und es wird alles nicht besser. Aber sonst? Sonst nichts!? Wir machen weiter wie bisher. Tagtäglich, tagtäglich ertragen wir den Stress, nähren uns hastig, verflüchtigen unser Leben im Rhythmus unserer schnellen Welt. Besinnungslos sitzen wir im Riesenrad der Zeit, an dem ganz andere drehen. Aussteigen erscheint zwecklos, die Landung hart. Und doch wäre es uns bisweilen wohler, diese Fahrkarte nicht gelöst zu haben, nicht in diesem Karussell zu sitzen, das täglich neue Opfer aus der Bahn wirft, abgelöst von der Zentripetalkraft der Rotation, hinausgeworfen auf den Boden, der allein uns sicher ist und dem wir doch so gerne entkommen wollten.

Drehschwindelig taumeln wir durch eine bunte Welt, in der nur der Sommer zählt. Glanz und Glamour, Farbe und Spiel rauben uns die Sinne, mit Krediten und Betrug entfacht zu grellem Schein. Von Herbst ist keine Spur und nicht von Winter. Basta. Es gibt sie nicht und nicht die Chance, neu zu erblühen. Wir rasen ohne zu rasten. Und drehen uns mächtig im Kreise. Unter uns der Boden, dieser verdammt verlässliche Freund.

Die Neue

OLYMPUS DIGITAL CAMERADa sitzen sie. Was sage ich, sitzen? Sie fläzen sich. Mehr liegend oder gar nicht in der Reihe. Kaugummi kauend. Verunstaltet durch Piercings, Kappen und Make-up aus dem Baumarkt. Das kann ja heiter werden. Die erste Stunde entscheidet. Sie zeigt denen erst mal, wo´s lang geht.

Der Erfolg ist mäßig, die Reaktion müde. Es steht unentschieden. Aus dem dumpfen Scharren, Schaben, Murmeln und Schwatzen wabern Gesprächsfetzen, vulgär, provokant, lauernd auf die Reaktion der Neuen, doch sicher versteckt unter der fremden Vielzahl verschlossener Gesichter.

Kein Zugang heute. Vielleicht später. Vielleicht öffnet sich in ein paar Tagen die eine oder andere Tür, gibt einen kleinen Spalt frei, gewährt Einblick in eine ihr nicht mehr vertraute Welt, in die jungen Erfahrungen und Empfindungen und Träume der ihr auf Zeit zur Lehre anvertrauten Wesen. Warten auf morgen.

Access denied

Eilige Schritte, flüchtige Gestalten schweben vorbei. Eingehüllte Paare, Verliebte, Verkrachte, Gedankenlose und Versunkene, Lauernde und Suchende. Arme und Reiche, strömen unablässig über das Trottoir. Gauner darunter. Wie viele? Ich weiß es nicht.

Zwischen uns die Scheibe. Ich drinnen, die draußen. Ich warte. Irgendwann tritt eine Gestalt ein. Wann? Irgendwann, früher oder später. Stumm suchend, bescheiden höflich, mitunter auch laut fordernd. Sie legt ihre Maske nicht ab, bleibt mir ein Rätsel. Wenige geben sich ein Gesicht, schenken mir ein Puzzlestück ihrer Persönlichkeit. Selten werden Ware und Kunde eins.

Ich warte wieder. Im Nacken meine Bankschulden, vor mir die nächste Ladenmiete und haufenweise schwer verkäufliche Ware. Ich möchte schreien. Diese gesichtslose Masse möge mir endlich erklären, was sie will. Warum all meine Anstrengungen nicht fruchten. Warum das alles vergebens sein soll. All die Aufwendungen, die langen Arbeitstage, sechs Tage im Geschäft und einer zuhause, der Verzicht auf den letzten Rest einer so genannten Freizeit. Meine Phantasie, meine Freundlichkeit, meine Beflissenheit im Kampf um König Kunde.

König Kunde will gar nicht mehr bedient werden. Er ist nicht einmal mehr Kunde. Hat kein Geld mehr, hat´s ausgegeben, verplant oder nie gehabt. Sein Reich wird geschlossen.

Gestern

OLYMPUS DIGITAL CAMERAMein neuer Laden war voller Menschen. Blumen, Flaschen, nette Worte schmückten die Eröffnung. Bekannte und Unbekannte waren voll des Lobes. Schöne Wünsche. Eine Ansprache des Bürgermeisters. Mit geschmeidigen Worten und geliehenen Zitaten. Nach erprobtem Muster. Ein Bild voller Zuversicht, eine Unterschriftszeile für den Wochenendkurier, der uns all sonntäglich ins Haus flattert.

Tag zwei: Die Spuren der Feier sind beseitigt, mein mit Liebe ausgewähltes Sortiment  zeigt sich in bestem Licht, bereit, entdeckt zu werden. Bereit, gegen Cash oder Bares auszufliegen und Platz zu machen für neue verlockende Ware.  Es ist wechselhaft draußen, für die Jahreszeit zu kühl. Mir scheint, als ob sich heute kaum jemand aus dem Haus traut.  Ist ja auch klar. Dann geht es eben morgen richtig los.

Keine 500 Meter weiter: Ein Räumungsverkauf. Kein Wunder, dass die Kunden bei mir rar bleiben. Aber das geht vorüber. Man braucht als Händler viel Durchhaltevermögen. Also: Keine Panik. Das lässt sich alles erklären. Außerdem: Ein Wettbewerber weniger. Das lässt hoffen.

Ein bisschen Stöbern im Netz. Noch ist es ruhig. Ich bleibe auf der Internetplattform AMAZON stecken: Waren meines Sortiments, winken dort zum Spottpreis. Unbegreiflich. Ich schließe rasch die Seite. Vielleicht merkt´s ja keiner.  Wir sind ja hier nicht bei AMAZON.

Vereinzelt kommen Passanten in meinen Laden, prüfend, wartend auf „den Kick“. Stumm und mit kurzem Gruß. Was bleibt, sind Spuren des Gebrauchs. Mein Sortiment verliert an Glanz, mit jedem Tag. „Sie müssen mehr werben“, ja, ich folge diesem Rat. Erschreckend teuer ist die  Anzeige in der nächsten Wochenendausgabe.  Aber:  „Wer nicht investiert, hat schon verloren.“ Auch diese klugen Worte habe ich vor Augen. Und: Mein Kontokorrentkonto gibt mir die Freiheit, auch einmal zu „powern“. Die „Wirkung ist gleich Null“.  Niemand verirrt sich wegen der Anzeige in mein Geschäft.

Der erste Monat ist nicht so gelaufen wie erhofft. Aber das will nichts heißen. Startschwierigkeiten von Existenzgründern sind bekannt. Man macht ja noch viele Fehler, wenn man neu ist im Geschäft. Lieferantenrechnungen und die Miete reißen ein tiefes Loch in mein Konto. Kein guter Start für den neuen Monat mit den vielen Feiertagen, in dem die Kunden zwischen zu viel Arbeit und Kurzreisen hin- und her gerissen werden.

Der zweite Monat war ein Totalausfall. Die Pleite folgte. Mein Geschäft war von gestern. Heute.

Fingerfood

OLYMPUS DIGITAL CAMERAIch muss noch fahren, bitte keinen Sekt. Gelber Orangensaft zieht Schlieren aufs Glas. Zwischen Zeigefinger und Daumen meiner Rechten klemmt ein pappig grauer, winzig kleiner Happen mit lustigem Obendrauf. Radieschen mit Gürkchen und Grün auf einem Hauch Schinkenbeilage. Zu haben sind auch fröhliche Ausführungen in Lachs und Käse. Alles mit kleinen Spießchen aus Holz. Haltung wahren, small talken und „genießen“. Fingerfood.

Was redet der Schwätzer da? Ach so, …. war in der Toskana. Billigflieger und so. „Ja, ja, die sind unglaublich günstig geworden.“… „Bin mal gespannt, wie lange das noch gut geht.“ Dieser widerliche Kerl hat doch schon wieder Urlaub gemacht. Und ist im Betrieb stinkefaul. Wann die den wohl endlich rauswerfen. „Ja, das muss man mitnehmen. Sie wären ja dumm, das nicht zu tun.“… „Wie geht’s denn eigentlich Ihrer Tochter, wollte die nicht auch ein Jahr ins Ausland?“… „Ist schon zurück?“…„Ja, das ist nachvollziehbar, wenn es ihr da so schlecht ergangen ist.“… „Sie haben den Veranstalter verklagt?“… „Ach so, mit einer Rechtsschutzversicherung.“… „Ja, dann man viel Erfolg. …“ Was steht der eigentlich noch da herum? Dieser falsche Fuffziger. Warum muss der sich unbedingt an mich hängen?

Drüben ist’s viel lustiger. Ein kreatives Clübchen junger und gesetzter Lebenskünstler ist gut drauf. Krasser Kontrast zu dem Knaben. Da möchte ich mittendrin sein.  „Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick.“

„Ach Sie, Herr Dr. Nochsonfall, schön Sie hier zu sehen.“… „Sie hätt’ ich hier gar nicht erwartet. Sind Sie schon länger hier?“… „So, … nein, ich habe Sie nicht bemerkt, obwohl ich offensichtlich ganz in Ihrer Nähe saß.“ Der tingelt hier auch wohl so rum, weil er keinen Anschluss findet. „Ich war gerade auf dem Weg…., wollte gerade gehen. Sie verstehen, meine Familie hat mich in dieser Woche noch gar nicht gesehen.“ „Ja, dann, einen schönen Abend noch.“

Im Ausgang blicke ich mich sehnsüchtig um. Das kreative Clübchen amüsiert sich prächtig. Über mich?

Viel zu lieb

Gute Botschaften schmeicheln der Seele, öffnen das Herz für Wohlwollen, versetzen uns in Spendierlaune. Automatisch. Ohne Frage. Eine phantastische Reaktion des Kleinhirns, so herrlich unvernünftig. Und so gewinnbringend für den, der sie zu nutzen weiß. Stille Attacke auf den sonst so wachen Verstand. Ein Opfer ohne Leiden.

Wiederholung gefällig? Aber gerne. Schon wieder Erfreuliches. Ein erfolgreicher Mensch, dieser Überbringer. Und wenn sich jemals Zweifel an geschenkter Großzügigkeit eingeschlichen haben sollten, jetzt haben wir den Beweis: Es hatte schon seine Richtigkeit. Schließlich zählt der Erfolg. Nun, Verstand, genug geleistet, ruh´ dich wieder aus, hier steht alles zum Besten.

Beachtlich, diese Steigerung: 50 Prozent. Steigerung ist positiv. Und positiv ist gut. Ist eine gute Botschaft wert. Adrenalin fürs Gemüt und der Schlüssel zum Tresor. Verstand, du bist nicht gefragt. Wir lassen uns die Stimmung nicht vermiesen, dieses Glücksgefühl, das uns so traumhaft schön verbindet. Es ist uns viel zu lieb und teuer.

Ein Lächeln

SAMSUNG OMNIA7_000845Und …….Cheeeeeese ……Gesichter erstarren zur Maske. Routinierte Lachmuskeln heben Oberlippen über kunstfertige Zahnfassaden und offenbaren deren künstliches Weiß den Fotolinsen. Eingefrorenes Lächeln mit betrügerischer Botschaft. Ein Bild für die Presse. Adressat: Lieschen Müller. Kein Grund zur Sorge. Es steht alles zum Besten. Der rechte Mann am rechten Fleck. So muss es sein.

Zweifel müssen schweigen. Deshalb grinsen die öffentlich ausgestellten Figuren. Honorig sehen sie aus, galant und charmant, geradezu nett, beladen mit bereits erwiesenen Ehren und gezahlten Geldern, mit Aufmerksamkeit und Andacht. Erhaben sind sie, über jeden Verdacht und über das gemeine Volk, dessen kleinbürgerliche Welt sie erschaudern lässt.

Sie denken großzügiger, in größeren Beträgen, toleranter im Umgang mit den kleinlichen Vorschriften, an deren Geburt sie schließlich selbst beteiligt waren. Was soll der Geiz, die buchhalterische Akribie? Steuerfreie Kostenpauschalen räumen auf. Den großen Mann zeichnet Großzügigkeit aus. Und er lässt sich einladen und aushalten. Er ist es sich wert. Und ist er nicht ein feiner Mensch? Dieses Lächeln …. !

Ich übernehme die Verantwortung

OLYMPUS DIGITAL CAMERAJa, schlimmer hätte es nicht ausgehen können. Die Kiste ist aufgeflogen. Keine Frage, dumm gelaufen. Leugnen hat auch nicht geklappt. Also durch. Haltung wahren, Verantwortung übernehmen und Bauern opfern. Möglichst öffentlich und möglichst empört ob derart unverantwortlicher Kompetenzüberschreitung, die einfach nicht geduldet werden darf. Eine breite Welle öffentlicher Anteilnahme trägt mich hinauf zu höheren Weihen.

 

Honoris causa

SAMSUNG OMNIA7_001087Eigentlich war er kein besonders guter Schüler. Damals im Städtischen Gymnasium. Eigentlich war er auch kein guter Student und auch nur ein mäßig begabter Ingenieur. Doch er mauserte sich mit der Zeit. Bei der Bundeswehr verpflichtete er sich für ein paar Jahre. Er wurde Offizier. Dafür reichte seine Begabung. Er befahl, die Mannschaft gehorchte. Sein Beruf erfüllte ihn mit großem Stolz. Er war eine Führungskraft. Bis seine Zeit herum war. Neue Herausforderungen warteten auf ihn.

Die zivile Welt wollte erobert sein. Dafür bedurfte es einer guten Strategie, das war ihm klar, das hatte er gelernt. Er trat in die Ortspartei ein, präsentierte sich als gewiefter Stratege, dessen geschultem Geist nicht der kleinste Patzer entging. Er war ein gefürchteter Mann. Ihm stellte sich niemand in den Weg, als er sich anschickte, die Ortspartei zu übernehmen. So etwas geht nicht ohne Freunde. Das wusste er. Und so versprach er ihnen eine gehörige öffentliche Vergütung, sobald er über die Kasse verfügen würde. Und er bekam die Kasse, hatte sich im Wahlkampf gut verkauft. Und seine Freunde gerieten in Ämter und geliehene Würden und dienten im treu und manchmal auch redlich. Es funktionierte. Keiner widersprach, nur die Opposition meldete sich ab und zu ein bisschen kleinlaut zu Wort.

Als sein Ort pleite war, wurde ihm das Amt zu provinziell. Er war zu Höherem berufen, zur höheren Instanz. Der Amtsinhaber sei unfähig, sagte er. Dieser habe bei der Aufsicht über den Ort versagt und trage die Verantwortung für die Pleite. Der Amtsinhaber nahm resigniert den Hut. Soviel Unverfrorenheit hatte er nichts entgegen zu setzen.

Und der nur mäßig begabte Ingenieur bekam die Stelle und verbot den Orten seines Machtbereichs all die vielen Sünden, die ihm den Weg auf so wunderbare Weise bereitet hatten.  Doch das wusste schon keiner mehr. Die Presse lobte ihn und druckte sein Bild, wann immer er zu Konferenzen lud. Das blieb bei höchster Stelle nicht unbemerkt. So erhielt er das Bundesverdienstkreuz am Bande, verziert und vergoldet. Er war ganz oben. Einflussreiche hörten auf ihn. Davon profitierte auch die Universität. Sie wäre sonst geschlossen worden, denn sie war unwirtschaftlich. In Anerkennung seiner Leistungen verlieh sie ihm die Doktorwürde. Honoris causa.

Faust in der Tasche

Es war einmal ein einfacher Mann. Der lebte in einer sehr einfachen Welt. Rechts war rechts, links links. Oben war auch noch dort, wo es hingehört und unten hatte er den Boden unter seinen Füßen.

Der einfache Mann verrichtete einfache Arbeiten, treu und fleißig, bis er die Kündigung bekam. „Wir…. bedauern diesen unausweichlichen Schritt sehr…“ sagte sein Chef. „Die Globalisierung, Sie verstehen…., und so.“ Er übergoss den einfachen Mann mit geheucheltem Dank und süßem Lob und drückte ihm zum Abschied die Hand.

Schlagen war verboten. Das wusste der einfache Mann. Fluchen war es auch. Denken nicht.

Seine Faust trägt er noch immer in der Tasche.  

Zaungast

Reine Seide. Umgarnter Jetset. Paradiesisch bunter Reichtum, herrlicher Marmor. Lichte Seiten schöner Existenz. Uneinholbare Verschwendung. Realitätsferner Überfluss, verlockend und verführend in die Welt der Ahnungslosigkeit.

Ahnungslos wovon? Von der Härte des vergossenen Betons, dem Schweiß des Minenarbeiters, der Staublunge des Bergmanns, dem Tod des Sklaven, der nichts anderes wollte, als seiner Familie ein karges Überleben zu sichern.

Ab und zu fliegt der Jetset aus. Reichtum ist langweilig geworden. Abenteuerreisen in die Realität: Rafting, Climbing, der Flug ins All. Harte Landung und Bestätigung zugleich.

Weiter so. Zuhause in zwei Welten. Nein. Nur in einer. Die andere bleibt ihm verschlossen. Unserem Zaungast.

Unglaublich

Nur ein bisschen. Das machen doch alle. Weltfremd, wer anderes denkt. Und anders handelt. Ein bisschen korrigieren. Ja. Das muss erlaubt sein. Das ist sogar geboten. Ja klar, geboten. Auch ohne Anordnung. Wie sollte sonst… Schließlich geht es um den Betrieb. Um Arbeitsplätze. Um Verantwortung. Tun, was getan werden muss.

Ja, das erzeugt schon ein bisschen Schwindel. Nicht bei mir. Ich stehe drüber. Ja. Diese Kleingeister…Und außerdem kommt´s ja auch gar nicht raus. Und wenn… doch, ja, dann greift Plan B. Ja, sicher. Plan B. Hab ich doch gleich gesehen, ja, sogar eingeplant. Das ist  Führungsqualität. Ja. Das ist Management.

Plan B fordert Opfer. Selbstverständlich. Dazu stehe ich. So ist das nun mal. Was heißt hier Opfer? Was sage ich da? Ach Unsinn. Wo kämen wir denn dahin, wenn jeder Buchhalter so ohne weiteres Bilanzen fälschen könnte? Auch wenn er dreist behauptet, im Sinne der Firma gehandelt zu haben? So etwas kann man einfach nicht dulden. Dass ich nicht lache – wer hat denn den Schaden?

Ich weiß nicht, wie jemand wie er auf die Idee kommen könnte, dass so etwas nicht auffliegt. Armer Tropf. Weiß der denn überhaupt nicht, was er seiner Familie damit antut?

Es ist unglaublich.

Escadada

Erste Adresse. Frankfurt, Madrid, Rom, New York und sonstnochwo. Boulevard des Überflusses. Hier entlädt sich die Kunstfertigkeit der besten  Manufakturen. Hier wartet sie auf ihre Belohnung. Streng gefasstes Glas teilt dem Betrachter kleine Einblicke zu. Große Namen treiben die Wertschätzung der Auslagen, öffnen das Herz. Der Preis? Spielt keine Rolle. Wird ganz klein geschrieben. Nicht der Rede wert. Unter uns. Das kleine Schildchen steht da nur wegen des Preisangabengesetzes. Ja, sehen Sie nur genauer hin… Und staunen Sie… Ja, so ist´s recht. Dem Mann von der Straße verschlägt´s die Sprache. Das ist eben der kleine Unterschied. Nicht dass ich etwas gegen diese Leute hätte. Aber…

Wir gehen hinein. Der Doorman nickt ergeben. Das Personal erledigt geflissentlich unsere Wünsche, auch die besonderen. Lieferung nach Hause? Gut gemeint. Nein, wir nehmen die Ware direkt mit, das gehört zum Shoppen dazu. Wir treten nach draußen. Ein gutes Gefühl. In der Tasche unsere reiche Beute. Und die Gewissheit, dass der kleine Mann noch nicht einmal ahnt, wie viel Geld in einem solchen Fummel steckt. Der kleine Unterschied eben. Escadada.

Auf und davon

OLYMPUS DIGITAL CAMERASie ist ein Segen, die Globalisierung. International handeln. Für alle Welt offen sein. Die Menschen miteinander verbinden. Grenzen überwinden, über Länder und Kontinente. Entwicklungsländern eine Chance geben. Liegt es nicht in unserer Verantwortung, den Ärmsten der Armen zu helfen, sie teilhaben zu lassen an den Errungenschaften unserer modernen Gesellschaft? Die medizinische Versorgung zu sichern, Zugang zu sauberem Trinkwasser und ausreichender Nahrung zu schaffen?

Ja, die Globalisierung dient nicht an erster Stelle uns. Profiteure sind allen voran die Armen, die dem Dunkel ihrer Aussichtslosigkeit entrinnen. Bildung wird sie frei machen von der Knechtschaft ihrer Diktaturen. Wenn sie erst einmal Arbeit haben. Zum Beispiel in einer unserer modernen Fertigungsstätten. Natürlich arbeiten sie zunächst zu Löhnen, die deutsche Gewerkschaftler auf die Barrikaden treiben würden. Und doch gewährt der Lohn dem einzelnen nie gekannten Reichtum, gemessen an den Verhältnissen vor Ort. Sie können eine Familie ernähren, ihre Kinder zur Schule schicken. Und irgendwann einmal haben sie das Geld für bescheidenen Wohlstand. Sie können Autos kaufen, Häuser bauen und sich vielleicht ab und zu etwas Überflüssiges leisten, ein bisschen Luxus eben. Sie werden es uns danken.

Liebe europäischen Arbeiter: Wir stehen in einem harten globalen Wettbewerb. Bezahlbare Löhne sind kein „Wünsch-dir-was-Spiel“. Vor den Toren der Gemeinschaft wartet ein großes Heer hungriger Menschen, die alles dafür geben würden, die Jobs machen zu dürfen, zu denen sich unsere feine Gesellschaft zu schade ist, die dankbar sind für den kargen Lohn, der weit unter eurem liegt, die bereitwillig rund um die Uhr arbeiten, für ein Stückchen Freiheit. Ihr aber verteidigt eure Privilegien, eure Freizeit, die euch über alles geht, die mehr zählt als die Sicherheit eures Arbeitsplatzes. Schämen solltet ihr euch angesichts der Not, die Menschen in den armen Ländern täglich erleben. Schämen. Seid dankbar dafür, dass Ihr Arbeit habt. Das ist nicht selbstverständlich. Stattdessen fühlt ihr euch ungerecht behandelt.

Ungerecht. Was ist schon gerecht? Es ist doch nichts anderes, als eine Neiddiskussion, die ihr führt. Ihr könnt es nicht vertragen, wenn jemand durch seine Leistung mehr verdient als ihr. Sozialer wollt ihr die Gesellschaft. Sozialismus! Habt ihr nicht gesehen, wohin der führt? Dann haben alle nichts. Das leuchtet doch jedem ein, kommt aber in den Schulen viel zu kurz. Da müsste dringend mal was dran gemacht werden. Total verfehlte Bildungspolitik. Macht ruhig so weiter, dann findet hier morgen nicht mehr viel statt. Der Wettbewerb ist hart. Die anderen schlafen nicht.

Ohne die Globalisierung wären wir heute noch auf einem ganz anderen Stand. Freie Märkte, freie Arbeitsmärkte, Schwellenländer wie China haben aufgeschlossen und viele Volkswirtschaften überholt. Auch wir sind reicher geworden. Die Entwicklung schreitet rascher voran denn je. Was gestern noch undenkbar erschien, ist morgen schon in der Praxis zu kaufen. In der Bekämpfung bisher unheilbarer Krankheiten sind wir dank globaler Zusammenarbeit große Schritte voran gekommen. Das sollten alle diejenigen beherzigen, die heute die Globalisierung kritisieren und versuchen, das Rad zurückzudrehen. Eine Umkehr gibt es nicht. Sie wäre auch fatal.

Und schließlich: Lasst das Kapital in Ruhe. Es arbeitet rund um die Uhr und rund um den Globus. Es arbeitet schnell und mit hoher Rendite. Es kennt keinen Urlaub und keine Krankheitstage. Und schweigt diskret. Es ist stets zur Stelle, wenn sich eine Gelegenheit bietet. Es meidet die Faulen und belohnt die Genügsamen. Es sucht die Freiheit und fühlt sich dort am wohlsten, wo es sein Werk in aller Freiheit verrichten kann. Kapital ist der Ausdruck von Leistung. Es mobilisiert die Menschen, nutzt ihren Fleiß und ihren ergebenen Einsatz und bezahlt sie reichlich mit schönen Dingen wie Glasperlen. Und so schafft Leistung klare Verhältnisse. So trägt das Kapital reiche Früchte. Seht nur die Politik, wie sie ihm hinterher schaut wenn es längst über alle Grenzen ist, um anderswo sein zerstörerisches Werk fortzusetzen. Auf und davon.  

Gepiercte Geschöpfe

Eine schwarz- bunte Mischung gepiercter Geschöpfe hockt am Diensthäuschen des städtischen Linienbusunternehmens. Paradiesvögel ohne Paradies. Gleich ganz anders und irgendwie doch gleich. Aufenthalt am Rande des Trottoirs und im Schmutz unserer sauberen Gesellschaft. Ihre rot und grell gefärbten Hahnenkämme, ihre genagelten Accessoires, ihre angezogenen Fetzten und ihre lila-schwarz bemalten Augenhöhlen signalisieren Abstand. Von uns, die höchst aufmerksam passieren. Fremd sind sie uns. Ihre Sprache, ihr Aussehen, ihre Ausstrahlung kennen wir nicht. Sie widersetzen sich unserem Ordnungssinn mit den vielen Schubladen, in die wir Menschen einzuordnen pflegen. Ganz weit weg sind sie. Unsere Phantasie versucht, ihre Wege zurück zu verfolgen. In dunkle Höhlen, in Gruften mit Kerzenschein oder schlicht in verwahrloste Behausungen. Doch selbst da sind wir nicht sicher. Ist es gar Mode? Nichts weiter als eine Modeerscheinung mit einem Hauch Stoff und Alkohol? Vielleicht ein bisschen „Jugend von heute“, nur viel schlimmer, so wie es mit jeder Generation aus unvordenklicher Zeit immer schlimmer geworden ist? Es ist eine eigene Gesellschaft in ihrer eigenen Zeit, mit Gewinnern und Verlierern, reserviert gegenüber der Welt, die wir ihnen bereitet haben, vielleicht auch ohne die Chance, die wir ihnen hätten geben müssen.